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Aus der Schulzeit meiner Mutter

Als unser Sohn in die dritte Grundschulklasse ging, sprachen sie im Sachunterricht über die Schule in früheren Zeiten. Sie sollten die Eltern und Großeltern zu diesem Thema befragen. Klar, dass ich ihm sofort über meine Schulzeit berichtet habe. Doch auch von seiner Oma wollte er wissen, wie es damals so in der Schule war.

Da wir allerdings 600 Kilometer von den Großeltern entfernt wohnten, rief er meine Mutter an und stellte ihr Fragen. Sie notierte sich diese und schrieb ihm damals einen ausführlichen Brief, in welchem sie über ihre Schulzeit berichtete. Diesen Brief habe ich wieder gefunden, denn ich habe ihn die ganzen Jahre für unseren Sohn aufbewahrt. Dieses Jahr zu Weihnachten schenkte er seiner Oma ein Buch, in dem sie Fragen zu ihrem Leben beantworten soll. Der Brief und die Fotos von damals werden hierin einen Platz finden. Auch meine Mutter hat sich gefreut, als ich ihr diesen Brief neulich zeigte. Sie ist damit einverstanden, dass ich heute diesen Brief in meinem Blog vorstelle:

Die Schule in früheren Zeiten

„Ich bin am 27.6.1929 in Asch (Sudetenland) geboren und auch dort in die Schule gegangen. Mein erster Schultag war am 1.9.35.

Wir hatten in Asch 7 Schulen. Ich ging in die nächstgelegene Schule, die „Bergschule“. Im Gebäude links waren die Jungen untergebracht und rechts die Mädchen. Dazwischen lag eine große Turnhalle.

Wir hatten täglich vier Stunden Unterricht.

Der Lehrer in der Volksschule (=Grundschule) war sehr streng. Er hatte einen Rohrstock. Wenn wir während des Unterrichts nicht aufpassten, mussten wir die Hand aufhalten, dann gab es eine drauf. Oh, das hat sehr weh getan.

Die Kleidung war normal, das heißt, es gab keine Uniform, wir durften anziehen, was wir wollten.

In der Volksschule waren wir 28 Schülerinnen.

Das Klassenzimmer war groß, hatte viele Fenster, Holztische und Bänke. In den Tischen waren Tintenfässer. Wir hatten keinen Kuli oder so einen Füller, wie ihr ihn kennt. Unser Schreibgerät war ein Holzstift, in den man eine Stahlfeder einschieben konnte. Während des Schreibens musste die Feder immer in das Tintenfass getaucht werden.

In der Volksschule hatten wir Rechnen, Lesen und Schreiben. Wir mussten Aufsätze und Diktate schreiben.
Religion, Heimatkunde und Turnen hatten wir auch.

Es gab Turnfeste und wir machten Wanderungen.

Im September 1939 begann der 2. Weltkrieg. Ich war damals 10 Jahre alt und ging in die 4. Klasse. Bei Fliegeralarm mussten wir in den Keller. Wir hatten immer Angst.

In die Bergschule ging ich 4 Jahre. Danach machte ich eine Aufnahmeprüfung und kam in die Bürgerschule (das war so wie die heutige Realschule). Ich ging also nach den großen Ferien in die „Angerschule“, so hieß meine neue Schule. Auch hier waren es 4 Jahre. Davon hatte ich drei Jahre Englischunterricht und Unterricht in Stenografie (=Kurzschrift). Außerdem hatten wir Musik, Biologie, Mathe, Deutsch, Kochen, Turnen und Zeichnen.

Unser Klassensaal war groß. Auch hatten wir einen Zeichensaal. Ich konnte sehr gut zeichnen. Meine Bilder hingen im Treppenhaus der Schule.

Der Unterricht in der Bürgerschule begann morgens um 8 Uhr und endete um 13.30 Uhr.

Ich hatte einen sehr weiten Schulweg in die Bürgerschule. Wir mussten immer laufen, denn wegen des Krieges fuhr kein Auto.

Die Klassen waren sehr groß. Wir waren 40 Kinder. Es fehlten viele Lehrer, denn die jungen Lehrer waren im Krieg.

Nach den 4 Klassen in der Bürgerschule, machte ich ein Pflichtjahr. Das Pflichtjahr bedeutete während des 3. Reiches 1 Jahr in der Landwirtschaft oder in einer kinderreichen Familie arbeiten.

Nachher begann ich eine Lehre im Büro. Nachdem ich 1 1/2 Jahre im Büro gelernt hatte, war der Krieg endlich zu Ende. Doch jetzt wurden wir aus unserer Heimat vertrieben. Mit einem Viehwagon wurden wir nach Hessen transportiert. In diesem Viehwagon „feierte“ ich meinen 17. Geburtstag.“

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Dieses Bild zeigt meine Mutter im Alter von 10 Jahren.

Ich bin froh, dass meine Mutter damals den oben abgedruckten Brief an unseren Sohn geschrieben und uns damit einen Teil ihrer Geschichte mitgeteilt hat.

Danke Mutti!

Auch unser Sohn ist seiner Oma hierfür dankbar.

Danke Oma!

Gut, dass ich alles aufgehoben habe.

Vielleicht möchtet Ihr auch noch diese Geschichten über mich und meine Familie lesen:

Erinnerungen an die Schulzeit

Meine Mutter und die Zugspitze

Das Sofa in der Küche

18 Kommentare

  1. Sehr schön, liebe Astrid,
    es ist gut, dass du alles aufgehoben hast, diese Erinnerungen sind Goild wert, für dich, aber auch für andere, die niemanden haben/hatten, der davon erzählen konnte. Zeitzeugenerinnerungen sozusagen!
    Herzliche Grüße
    regina

    • Astrid Berg sagt

      Ich habe es schon als Kind gemocht, wenn meine Eltern mir etwas aus ihrer eigenen Kindheit erzählt haben. Heute bin ich sehr dankbar dafür, dass ich dieses und jenes von ihnen erfahren habe und es auch an meinen Sohn weitergeben kann. Ich glaube, das fördert auch das Zusammengehörigkeitsgefühl. Man weiß etwas vom Leben der Familienmitglieder und nimmt somit auch ein wenig daran teil.
      Ich schicke Dir herzliche Grüße
      Astrid

  2. Das sind rührende Erinnerungen liebe Astrid. Danke an Deine Mutti, dass Du uns ihre Geschichte erzählen durftest.
    Meine Mutti – Jahrgang 1944 – hat mir auch von Schiefertafeln erzählt, vom Griffel, Schwamm und Kreide.
    Ich habe auch Stenografie gelernt und nutze die Kurzschrift heut noch im Büro. So kann keiner lesen, was ich mir notiere 🙂
    Liebe Grüße von Kerstin.

    • Astrid Berg sagt

      Das ist ja super, Du hast also sozusagen Deine eigene Geheimschrift.
      Ich fand es als Kind immer faszinierend, wenn meine Mutter mir manchmal aus Spaß etwas in Steno aufgeschrieben hat. Stenografie ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Toll, dass Du Steno beherrscht.
      LG
      Astrid

  3. Liebe Astrid, es waren viele kurze Sätze, die Deine Mutter da aufgeschrieben hat. Dass es ihr immer noch nahegeht, ist doch klar. Ein kurzer Satz wie „in diesem Viehwaggon feierte ich meinen 17. Geburtstag“ ist ein zu Herzen gehendes Beispiel. Da muss man auch nicht viel mehr dazu sagen. Ich bin dankbar, dass ich eine schöne Schulzeit hatte und dass ich meinen Kindern dies auch so weitergeben kann. Liebe Grüße und vielen Dank für diesen persönlichen Einblick Tanja

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Tanja,
      die kurzen Sätze kommen wahrscheinlich daher, weil unser Sohn ihr einen ganzen Fragekatalog übermittelt hatte 🙂 .
      Ja, das geht ihr auch nach 70 Jahren noch sehr nahe und sie spricht immer noch davon, dass Asch ihre Heimat ist, obwohl sie nur einmal noch dort war und sie nichts mehr an früher erinnerte. Aber solche Ereignisse sind prägend für ein ganzes Leben.
      Sei herzlich gegrüßt
      Astrid

  4. Sehr berührend, liebe Astrid. Solche Werte haben Bestand, auch für die nächsten Generationen, die sich so ein „Schulleben“ nicht mehr vorstellen können.
    Meine Mutti ist Jahrgang 34 und wir reden oft über die Zeit damals, über Evakuierungen, unterbrochene Schulbesuche…

    Einen lieben Gruß an dich,
    Anna-Lena

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Anna-Lena,
      ich denke, besonders für die Generation unseres Sohnes und noch jünger sind solche Berichte sehr aufschlussreich. Sie erleben die Schule heuteztage ganz anders als ihre Großeltern oder wir sie erlebt haben.
      Auch die eigene Familiengeschichte ist immer wieder interessant und sollte nicht vernachlässigt werden. Es kommt der Zeitpunkt, an dem man nicht mehr fragen kann, weil niemand mehr zum Antworten da ist. Deshalb sollte man sich frühzeitig dafür interessieren.
      LG
      Astrid

  5. Wie oft denke ich heute: Hättest du mal dieses oder jenes noch gefragt. Jetzt ist niemand mehr da, den ich zu früheren Zeiten befragen könnte – deshalb ist dieser Brief ein wahrer Schatz. Die Sache mit dem Rohrstock habe ich auch von meiner Mutter gehört und dass der Pfarrer beim Unterricht einem Mädchen die schwere Bibel direkt auf den Kopf gehauen hat, erzählte sie mir auch. Ich bin froh, dass sich in dieser Hinsicht viel getan hat und es die Prügelstrafe nicht mehr gibt. Schlimm, was Kinder damals erleben mussten – das gilt natürlich auch für die Flucht. Da bleib doch immer eine Wunde, denke ich! LG und Danke, dass du diesen persönlichen Brief eingestellt hast! Martina

    • Astrid Berg sagt

      Ich bin auch froh, dass ich einige Dinge von meiner Mutter erzählt bekommen habe, aber ich bin mir sicher, dass ich nicht alles weiß. Noch kann ich zum Glück fragen.
      Gott sei Dank habe ich einen solchen Pfarrer nicht erlebt und an mir gingen zum Glück auch die Ohrfeigen vorbei, aber ich weiß, dass es sie gab.
      Meine Mutter hat diese Zeit und die Vertreibung und Flucht niemals vergessen, auch nach 70 Jahren nicht.
      Danke für Deinen lieben, einfühlsamen und ausführlichen Kommentar.
      LG
      Astrid

  6. Liebe Astrid,
    deine Mutter hat ihren schulischen Werdegang gut beschrieben.
    Damals waren Jungen und Mädchen noch getrennt.
    Eine intensive Geschichte, die berührt.
    deine Bärbel

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Bärbel,
      ich finde es schön, dass meine Mutter damals unserem Sohn alles so ausführlich geschildert hat. So hat er eine kleine Vorstellung von dem Leben und der Schule zu ihrer Zeit gewonnen.
      LG
      Astrid

    • Astrid Berg sagt

      Ja meine Mutter hat unserem Sohn damals einen sehr ausführlichen und lieben Brief geschrieben.
      LG
      Astrid

  7. Liebe Astrid, herzliche Grüße.
    Der Brief Deiner Mutter ist ja ein wirklicher „Schatz“.
    Eine Fragestellung zum Schulalltag der Eltern gab es bei uns nicht.
    Aber ich selbst wollte immer wissen, wie es in der Schule meiner Pflegemutter/Großtante war.
    Unsere beiden Jungs erzählte ich von meiner Schulzeit, zeigte ihnen meinen Schulweg und die Schule, in der ich 10 Jahre Unterricht hatte. Das Gebäude steht heute noch.
    Tschüssi, winke, winke, Brigitte

    • Astrid Berg sagt

      Ja, liebe Brigitte, ich habe eine sehr gute und liebe Mutter.
      Sie hat uns nicht nur von ihrer Schulzeit berichtet, sondern auch von den Schrecken des Krieges. Sie hat ihren Bruder im Krieg verloren, die Schwester ist mit 10 Jahren gestorben und ihr Vater schon bald nach der Vertreibung aus der Heimat. Sie durfte leider keine unbeschwerte Kindheit und Jugend erleben.
      LG
      Astrid

  8. Eine anrührende Geschichte.
    Auch ich erinnere mich noch gut an meinenSchulzeit. Zwei Jahre hatten wir Unterricht
    in einem Bunker, weil laufend Luftangriffe waren. Später waren wir dann zu 48 Schülern in
    einer Klasse. Bücher hatten wir nur stark geschwärzt und immer wieder kamen Militär- soldaten, um zu überprüfen, dass wir auch ja nichts mehr von dem Hitlerregime vermittelt bekamen. Es waren zu der Zeit noch immer Nazis unter den Lehrern. Aber die wurden so nach und nach entlassen.
    Einen angenehmen Dienstag wünscht Dir
    Irmi

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Irmi,
      danke für Deinen ausführlichen Kommentar. Es war keine leichte Zeit damals und den Kindern wurde ihre unbeschwerte Kindheit geraubt. Meine Mutter hat mir auch von Luftangriffen, von der Vertreibung und der Flucht erzählt. So etwas kann man nie vergessen, egal wie lange es schon her ist.
      LG
      Astrid

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