Mißmutig schlendert Martin den Weg entlang. Er hat es überhaupt nicht eilig, denn nach dem Wochenende muss er seinen Aufsatz abgeben und er hat noch kein einziges Wort geschrieben.
„Und es wird auch kein Wort dazukommen!“, schimpft er und kickt einen Stein in die nächste Ecke.
„Immer diese blöden Aufsätze mit den noch blöderen Themen. ‚Mein schönstes Ferienerlebnis‘, ‚Mein lustigstes Erlebnis‘ ,Frühling, Sommer, Herbst und Winter’, und so weiter, und so weiter…. Als wenn es nichts anderes auf der Welt gäbe.“
Dieses Mal ist der Herbst dran. Sie sollen eine ganz persönliche Herbstgeschichte schreiben. Vom Drachensteigen will schon Hugo, sein Banknachbar, erzählen. Das wäre was gewesen, weil er nämlich ganz allein einen tollen Drachen gebaut hat, den er beim nächsten Herbstwind steigen lassen will. Aber das hat Hugo schon letztes Jahr gemacht und davon will er nun berichten. Also ist für Martin diese Idee schon mal hinfällig. Yvonne hat im Herbst Geburtstag und erzählt wahrscheinlich von ihrer letzten Geburtstagsfeier. Alex stellte bei einer Kindergartenaufführung mal einen Baum im Herbststurm dar und wird darüber schreiben. Aber Martin hat keinen blassen Schimmer wovon er berichten soll. Der Herbst ist für ihn einfach nur eine Jahreszeit ohne große Bedeutung.
„Geh nach draußen in den Park und beobachte das Treiben um dich herum und die schöne Natur, dann wird dir schon was einfallen“, hatte ihm sein größerer Bruder geraten.
„Bah! Toller Rat. Als ich im Park ankam, zogen dunkle Wolken auf und es fing an zu schütten. Das einzige Ergebnis war, dass ich pitschnass nach Hause kam und ich mir einen Schnupfen angelacht hatte.“
Gut, darüber könnte man notfalls schreiben, aber irgendwie empfand Martin die Sache ziemlich langweilig.
„Das reißt doch niemand vom Hocker“, meint er zu seiner Oma, der er beim Mittagessen sein Herz ausschüttet.
„Da hast du allerdings recht!“, pflichtet sie ihm bei.
„Worüber würdest du denn schreiben?“, fragt Martin in der Hoffnung auf einen tollen Vorschlag.
„Ach“, lächelt Oma und bekommt plötzlich einen ganz verträumten Blick. „Ich würde von meinem schönstes Herbstkleid erzählen.“
„Oma!“, ruft Martin entsetzt aus. „Ich ziehe doch keine Kleider an, ich bin ein Junge, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest!“
„Ja, ja, aber komm trotzdem mal mit!“, fordert sie ihren Enkel auf, der durch das geheimnisvolle Verhalten seiner Oma neugierig geworden ist.
Oma steigt gefolgt von Martin die Stufen zum Keller hinab und geht geradewegs auf einen alten Schrank zu. Sie öffnet die rechte Schranktür und Martin sieht Wintermäntel, Stiefel und zwei Kleiderhüllen, die dort auf den Bügeln hängen. Bei einer von den Kleiderhüllen zieht Oma nun den Reißverschluss auf und holt etwas heraus.
Martin sieht ein zartes, schwarzes Kleid aus weich fließendem Stoff mit weit fallendem Rock und aufgedruckt leuchtend orange-und rötlichen Herbstblättern. Fast ehrfurchtsvoll streicht seine Oma den Stoff glatt und Martin spürt, dass dies tatsächlich etwas ganz Besonderes sein muss.
„Das ist ein hübsches Kleid“, meint er und lächelt seiner Oma zu.
„Ja und es gehört zu meiner ganz persönlichen Geschichte und damit auch zu deiner Geschichte“, erklärt sie Martin. „Aber lass uns wieder nach oben gehen.“
Martins Großmutter hängt das Kleid zurück in den Schrank und beide gehen nach oben ins Wohnzimmer.
Martin setzt sich voller Erwartung auf das Sofa, denn er hofft, dass Oma ihm diese ganz persönliche Geschichte erzählt.
„Weißt du, mein Junge, auch deine Großmutter war einmal jung. Vor vielen Jahren trug ich dieses Kleid. Es war auf einem Fest. Tanz in den Herbst, so hatten sie es genannt. Deine Uroma hatte mir extra dafür dieses Kleid geschneidert. Ich war gerade einmal 18 Jahre jung. Gleich beim ersten Tanz wurde ich von einem feschen jungen Mann aufgefordert, der mir sofort sympathisch war. Wir tanzten den gesamten Abend zusammen und beim Abschied verabredeten wir uns für das darauffolgende Wochenende. Dreimal darfst du raten, wer mein Tanzpartner war!“
„Ich glaube“, meint Martin, „ich brauche nicht zu raten. Das kann nur Großvater gewesen sein!“
„Ja, mein Junge! Und es war Liebe auf den ersten Blick und zwar nicht nur bei ihm, sondern auch bei mir hat es sofort gefunkt. Dieses Kleid wird mich immer daran erinnern“, sagt die Großmutter und kommt Martin plötzlich wie ein verliebtes junges Mädchen vor.
„Oma, hast du ein Foto, das dich in diesem Kleid zeigt?“
„Ja, irgendwo muss ich noch eines haben. Lass uns mal in diesem Fotoalbum nachsehen.“
Am späten Nachmittag marschiert Martin mit dem Foto in der Hand nach Hause. Jetzt hat er keine schlechte Laune mehr. Im Gegenteil. Seinen Aufsatz wird er gleich nachher mit Freude im Herzen schreiben. Nun hat er eine ganz persönliche Herbstgeschichte, denn ohne diese wäre er nicht da.
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