Heute ist Isabell zum Adventsbesuch bei ihren Eltern. Sie hat leckeren Kuchen und selbstgebackene Weihnachtsplätzchen mitgebracht. Die Mutter hat bereits den Tisch gedeckt und der Vater brüht gerade den Kaffee nach altgewohnter Manier auf. Zu besonderen Anlässen lässt er die Kaffeemaschine stehen und holt Omas Sonntagsservice heraus. Das macht er schon solange Isabell denken kann und das wird er wohl auch nie mehr ändern.
Seitdem sie vor nunmehr fast fünfzehn Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen ist, gehören alle ihre regelmäßigen Besuche ebenfalls zu den besonderen Anlässen. Auch wenn diese im wöchentlichen Abstand erfolgen.
„Es tut mir leid, dass ich mich heute verspätet habe“, sagt Isabell, „aber es sind seit heute Brückenbauarbeiten auf meiner Fahrstrecke hierher im Gange. Also gab es eine Umleitung, die für mich allerdings einen Umweg bedeutet hat.“
„Ach ja“, nickt der Vater. „Ich habe davon in der Zeitung gelesen.“
„Stimmt“, erinnert sich auch die Mutter. „Eigentlich wollte ich dich bei unserem Telefongespräch gestern darauf aufmerksam machen, aber irgendwie haben wir uns so verplappert, dass ich es dann vergessen habe.“
„Die Sanierung dieser Brücke wird eine ganze Weile dauern“, fügt ihr Gatte hinzu. „Aber diese Verbindung ist sehr wichtig, denn sie überwindet ein natürliches Hindernis, nämlich den Fluss.“
„Ja, Brücken verbinden….“, flüstert Isabells Mutter fast andächtig und springt unvermittelt auf.
Weder Vater noch Tochter können dieses Verhalten deuten. Sie schauen ihr stirnrunzelnd nach, nehmen aber gleich wieder ihr Gespräch auf und kommen vom Hundertsten ins Tausendste. Selbst nach einer gefühlten Ewigkeit kommt die Mutter nicht mehr zurück ins Wohnzimmer.
„Ich gehe mal nach ihr schauen. Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Vielleicht ist ihr schlecht geworden“, mutmaßt Isabell.
Auch der Vater ist inzwischen beunruhigt und geht mit seiner Tochter auf die Suche. Weder in der Küche, noch im Bad oder im Schlafzimmer gibt es eine Spur von der Mutter. Als sie die Tür zu ihrem Nähzimmer öffnen, finden sie dieses ebenfalls leer vor.
„Möglicherweise ist ihr tatsächlich schlecht und sie ist an die frische Luft gegangen“, überlegt der ältere Herr. Angst spiegelt sich auf seinem Gesicht wider, die sich noch mehr verstärkt als sie auch im Garten nicht fündig werden.
„Marie!“, ruft er mit zittriger Stimme. „Wo bist du denn nur?“
„Hier oben, Toni!“, schallt es plötzlich zurück.
„Wo?“
„Na hier, auf dem Dachboden!“, ruft die Mutter aus der kleinen Dachluke. „Ich hab’s! Ich hab es gefunden!“
„Was hast du gefunden?“, fragen Vater und Tochter wie aus einem Munde, als sie die Tür zum Dachraum öffnen und die Mutter kniend vor einer Truhe vorfinden.
„Das hier! Ich wusste, dass ich es nicht weggeworfen habe.“
„Deshalb durchforstest du den halben Dachboden?“, schüttelt ihr Ehemann den Kopf.
Auch Isabell versteht die Welt nicht mehr. „Das ist ein alter Postkartenblock, der schon ganz vergilbt ist. Den kannst du entsorgen!“
„Wer benutzt heutzutage noch solche Postkarten?! Marie, du hebst doch sonst nicht derartigen Müll auf.“
„Das ist kein Müll, Toni!“, empört sich seine Frau. „Kannst du dich noch an Ute erinnern?“
„Welche Ute?“, will nun auch die Tochter wissen. „Ich habe noch nie etwas von einer Ute gehört.“
„Das war ja auch noch vor deiner Geburt.“
„Ach, meinst du Ute und Franz?“, ereilt den Vater ein Geistesblitz. „Die Zwei haben sich doch scheiden lassen und Ute ist dann wieder in ihre alte Heimat gezogen.“
„Genau“, bestätigt Marie. „Und beim Abschied hat sie mir diesen symbolträchtigen Postkartenblock geschenkt.“
Isabell und ihr Vater betrachten den besagten Gegenstand mit wachsender Neugier.
„Symbolträchtig?! Oh ja! Das kann man wohl sagen“, gibt Isabell zu.
„Brücken!“, schlägt sich Toni gegen die Stirn. „Die Verbindung zwischen euch sollte nicht abbrechen!“
„Und?!“
„Naja, es waren einmal zehn Karten. Drei fehlen. Diese habe ich geschrieben, dann ist die Verbindung doch irgendwie abgebrochen. Das ist sehr schade, aber nachdem jahrelang Funkstille zwischen uns geherrscht hatte, habe ich mich nie wieder getraut. Vielleicht erinnert sie sich gar nicht mehr an mich oder sie will von mir nichts mehr wissen.“
„Möglicherweise traut sie sich aber auch nicht den ersten Schritt zu machen“, erwägt Toni.
„Du solltest ihr eine Brücke bauen!“, schlägt Isabell ihrer Mutter vor. „Die Adventszeit ist doch ein schöner Anlass.“
„Ja, ihr habt Recht! Das ist eine gute Idee, die ich auch gleich in die Tat umsetzen sollte.“
Am Abend fährt Isabell wieder nach Hause, doch zuvor wirft sie einen dicken Brief in den Briefkasten der Hauptpost. Hierin befinden sich zwei Brückenmotiv-Postkarten. Eine der beiden Karten ist schon frankiert und mit der Anschrift von Marie versehen. Isabell hofft, dass ihre Mutter von der ehemaligen Freundin eine Antwort erhält. Vielleicht kann sie diese Ute dann auch einmal kennenlernen. Wer weiß?!
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Eine symbolträchtige Geschichte. Brücken kann man aufbauen, man kann sie abreißen, man kann sie überwinden. Brücken brauchen wir. Auf unseren alltäglichen Wegen und in unsere Herzen.
Liebe Grüße ins Wochenende von Kerstin.
Liebe Kerstin,
das hast Du so schön gesagt und ich kann Dir nur aus vollem Herzen zustimmen.
Es ist kaum zu glauben, aber wir nähern uns nun mit großen Schritten dem 1. Advent. Ich wünsche Dir und Deiner Familie ein schönes Adventswochenende und schicke Dir liebe Grüße.
Astrid
eine sehr schöne Geschichte..
ja.. so viele Brücken fürhren irgendwann nur noch ins Ungewisse
der Kontakt ist eingeschlafen
man weiß nicht wo der andere steckt
ich denke auch oft ..wo sich wohl die oder jene wohl befinden mag
besonders wenn mir alte Briefe in die Hände fallen
leider hat man dann meist auch keine Adressen mehr die aktuell sind
liebe Grüße
Rosi
Guten Abend, liebe Rosi,
mir geht es ebenso. Im Laufe unseres Lebens schließen wir viele Freundschaften und Bekanntschaften. Manche bleiben, andere verlieren sich wieder. Allerdings habe ich es selbst schon erfahren, dass auch ehemalige Kontakte wieder aufleben können.
LG
Astrid