Erdachtes & Erzähltes, Kurzgeschichten
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Gut beschirmt

Da liegt er nun. Mitten in der Stadt hat man ihn ausgesetzt. Niemand achtet wirklich auf ihn. Nur ein Junge, der vorbeikommt, gibt ihm noch einen Fußtritt, damit er den Bürgersteig frei macht. Verschreckt bleibt er an einer Mauer liegen. Ein verwelktes Blatt hat sich zu ihm gesellt.
„Wieso liegst du hier so rum?“, fragt das Blatt.
„Ich bin traurig, denn mich mag keiner mehr! Man hat mich einfach weggeworfen.“
„Wieso? Stimmt mit dir irgendetwas nicht?“
„Ach“, sagt er, „das ist eine lange Geschichte.
„Dann erzähle sie mir doch! Ich kann gut zuhören und außerdem habe ich viel Zeit.“
„Na gut: Am Anfang stand ich in einem Geschäft mit anderen Kollegen zusammen. Viele Menschen gingen täglich in dem Laden ein und aus. Keiner würdigte uns eines Blickes, denn draußen war Sommer und die Sonne brannte vom Himmel. Uns brauchte niemand, wir waren überflüssig.“
„So ein Quatsch, wie kann jemand wie du überflüssig sein. Du bist total nützlich!“
„Das dachte ich auch immer, aber schau her, wie ich enden muss!“, schnieft der Schirm total traurig.
„Erzähl weiter, bitte! Wie bist du überhaupt hierher gekommen?“, will das Blatt wissen.
„Naja, irgendwann begann es dann doch zu regnen und alle hatten keinen Schirm dabei, weil der Wolkenbruch ganz plötzlich und unvorhersehbar gekommen war. Alle meine Kollegen waren im Nu verschwunden, nur mich wollte keiner haben. Ich war ihnen zu langweilig, weil ich nur grau und nicht bunt und schillernd bin.“
„Aber dann kam doch jemand, oder?“
„Ja, eine chice Dame kam herein. Sie schaute mich zuerst etwas verächtlich an, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als mich mitzunehmen. Ich zeigte ihr meine guten Eigenschaften und spannte mich in meiner vollen Größe auf. Alle Tropfen hielt ich von ihr fern. Ich wurde pitschnass, aber ich ließ keinen einzigen noch so kleinen Tropfen durch. Langsam hatte ich das Gefühl, dass sie mich zu mögen begann. Sie nahm mich sogar mit nach Hause und stellte mich aufgespannt in ihr Bad, damit ich trocknen konnte. Doch dann nahm mein Schicksal seinen Lauf.“
Das Blatt hat ganz still den Ausführungen des Schirms gelauscht und wundert sich nun, warum der Schirm immer trauriger wird.
„Du hast eine Besitzerin gefunden, die deine Dienste zu würdigen weiß. Das ist doch genau das, was sich ein Schirm nur erträumen kann.“
„Ja, ja, aber sie ließ mich einfach immerzu daheim liegen. Und ausgerechnet dann fing es an zu regnen. Am nächsten Tag nahm sie mich dann extra mit. Und genau dann regnete es keinen einzigen Tropfen.“
„Oh, das ist aber Pech!“, gesteht das Blatt.
„Genau und zwar für mich! Sie schimpfte mit mir, dass ich nie zur Stelle sei, wenn sie mich brauchen würde. Und wenn sie auf meiner Begleitung bestand, dann kam ich mangels Regen nicht zum Einsatz. So langsam glaubte sie ich wäre an der ganzen Misere schuld und beschimpfte mich immer mehr.“
„Hast du dich denn nicht verteidigt?“
„Na klar habe ich das getan. Ich erklärte ihr, dass ich ein Wetterschutz sei und kein Wettermacher. Sie meinte nur, dass ich sowieso hässlich wäre und vollkommen überflüssig. Sie warf mich zuerst in den Keller und nach ein paar Wochen kam ich zum Sperrmüll auf die Straße.“
„Und wie bist du dem Müllwagen entkommen?“, fragt das Blatt neugierig.
„Der Wind hat mich gerettet. Heute Nacht hat er tüchtig gepustet und weil ich aufgespannt bin, hat er mich einfach weggeweht. Immer ein Stückchen weiter weg vom Sperrmüllhaufen. Und zum Schluss kam ein Junge und verpasste mir einen solch heftigen Tritt, dass ich hier gelandet bin.“
„Da hast du aber Glück gehabt.“
„Glück? Na, wie man es sieht. Ich lebe noch, ja. Aber was wird mich jetzt für ein Schicksal ereilen?“
Schweigsam liegen nun das Blatt und der Schirm auf dem Gehweg. Menschen schlendern an ihnen vorüber. Der Tag neigt sich dem Ende zu und die Sonne geht bereits unter. Auf einmal bleibt ein Mann vor den Beiden stehen. Er ist sehr ärmlich gekleidet und weder er noch seine Kleidung ist besonders sauber. Er riecht nach Alkohol und trägt eine Plastiktüte bei sich. In dieser Tüte sind seine ganzen Habseligkeiten. Er hat keine feste Bleibe, sein Schlafplatz ist eine Bank im Stadtpark. Dieser Mann beugt sich nun zu dem Schirm hinunter und hebt ihn auf. Er dreht und wendet ihn in seinen Händen.
„Du bist ja ein richtiges Schmuckstück!“, sagt er. „Kein bisschen kaputt. Du bist einfach perfekt!“
Der Obdachlose strahlt und streicht zärtlich über den Schirm.
„Jetzt habe ich ein Dach über dem Kopf und werde nicht mehr nass. Welch ein Glück, dass ich dich gefunden habe! Und als Spazierstock kann ich dich auch noch benutzen. Heute ist mein Glückstag! Ich bin richtig reich beschenkt worden!“
Glücklich klappt der Mann den Schirm zu und zieht von dannen. Er hört nicht wie das auf der Innenseite des Schirmes klebende Blatt kichert:

„So schnell kann das Blatt sich wenden,
lass dich nur nicht von Äußerlichkeiten blenden!“

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6 Kommentare

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Brigitte,
      auch Dir und Deinem Mann wünsche ich schöne Pfingsten. Lasst es Euch gutgehen und genießt die Feiertage.
      LG
      Astrid

  1. Der letzte Spruch ist super Astrid! Für den einen Müll, für den anderen ein Glücksgriff. Ich hatte schon viele. In Rot, in Blau, in Grün. Aber einen grauen hatte ich auch noch nie.
    Danke für die niedliche Geschichte.

    • Astrid Berg sagt

      Ich habe irgendwann mal einen grauen Stockschirm als Werbegeschenk bekommen. Aber eigentlich steht er nur im Schirmständer rum, ich nutze lieber die chiceren Schirme😉.
      Liebe Pfingstgrüße
      Astrid

  2. Liebe Astrid, sei herzlich gegrüßt.
    Ein mausgrauer Schirm wird leider übersehen. Es soll eher ein farbenfroher Schirm sein, aber das der graue Schirm stark und unerschrocken ist, ein lieber und fürsorglicher Kumpel, wird nicht in ihm gesehen. Ein wunderhübscher bunter Schirm möchte nur gefallen und ist nicht freundschaftlich eingestellt.
    Regen, Wind, aber auch heiße Sonnenstrahlen hält der Graue für seinen neuen Freund, der nicht viel Lebensfreude hat, mit aller Gestängekraft von ihm ab. Er würde gern ein vollständig schützendes Dach für ihn sein. Er möchte sich für die gefundene Zweisamkeit dankbar zeigen.
    Einen schönen Tag wünscht Dir Brigitte.

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Brigitte,
      das hast du wunderschön gesagt.
      Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich sagen, dass auch ich eher nach modischen Schirmen Ausschau halte. Im Grunde genommen ist ein Schirm ein nützlicher Gegenstand, vor dem die Mode jedoch nicht halt gemacht hat. Früher war das sicherlich mal ganz anders oder wenn man urplötzlich vom Regen überrascht wird. Dann ist man einfach nur dankbar „beschützt“ zu werden.
      LG
      Astrid

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