Für Kinder, Kurzgeschichten
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Vom Winde verweht

Ich bin Laubinchen, ein Blatt. Vielleicht bist du mir schon einmal begegnet. Auf jeden Fall kennst du meine Schwestern und Brüder. Wir sind nämlich eine sehr große Familie. Wenn wir alle versammelt sind, nennt man uns Laub. Wir wohnen auf den Laubbäumen und sind im ganzen Land verteilt. Wenn der Baum groß und kräftig ist, also sozusagen schon ausgewachsen, dann hängen bestimmt 100 000 meiner Schwestern und Brüder an ihm. Obwohl es von uns so viele gibt, die sich auch noch alle ähneln, ist trotzdem jeder von uns einzigartig. 

Im Frühjahr, wenn es langsam wärmer wird und die Sonne ihre wärmenden Strahlen zur Erde schickt, dann brechen wir aus den Blatthöckern heraus und lassen den einst kahlen Baum ergrünen. Die Menschen freuen sich dann und sagen, dass die Natur wieder erwacht.
Im Herbst, wenn wir dann unser Grün gegen Gelb, Braun und Rot austauschen, erfreuen wir die Menschen wieder mit unserer Farbenpracht. Wenn wir unseren Farbstoff Chlorophyll abgebaut haben, dann dauert es nicht mehr lange und und wir fallen zu Boden. Der Baum ist dann kahl und im Frühjahr kommen wieder neue grüne Blätter, also weitere Geschwister von mir. Das ist ein ewiger Kreislauf.
Auch ich bin jetzt vom Baum gefallen und liege mit meinen Familienmitgliedern auf der Erde. Die ganze Wiese rund um den Baum haben wir inzwischen schon abgedeckt. Für die Käfer, Würmer, Igel, anderes kleines Getier und das Gras sind wir jetzt eine wärmende Schicht. Und gegenseitig halten wir uns natürlich auch warm, denn jetzt kann es schon ganz schön kalt werden in den Nächten und auch die Tage sind bereits kühler.
Gerade waren Kinder auf der Wiese. Sie sind durch das Laub gestampft und haben uns in die Höhe geworfen. Dabei sind wir Blätter ganz schön durcheinander gerüttelt und geschüttelt worden. Plötzlich ist kein Blatt mehr da, wo es vorher lag. Auch ich liege jetzt weit von meinem Baum entfernt. Ich brauche aber keine Angst zu haben, denn ich bin ja nicht allein. Es hat Spaß gemacht herumzuwirbeln und ich warte auf eine Kinderhand, die mich wieder hoch wirft. Aber die Kinder müssen nach Hause, denn es wird gleich dunkel.
Eigentlich fürchte ich die Dunkelheit nicht, weil ich ja schon immer Tag und Nacht draußen war.
Inzwischen ist es stockdunkel und kalt. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Ich kenne es schon. Das ist der Wind. Als ich noch grün an dem Baum hing, da hat mich der Baum festgehalten. So konnte ich nicht hinunter fallen, wenn der Wind tüchtig geblasen hat. Manchmal kam sogar ein Sturm daher. An meinem Baum hat er einen Ast abgeknickt und der Baum konnte ihn nicht mehr versorgen. Ich war damals sehr traurig. Ich habe die Blätter dieses Astes sehr vermisst.
Der Wind ist inzwischen stärker geworden und kommt in Böen daher. Mit jedem Windstoß werde ich ein Stückchen weiter getragen. Mir ist schon ganz schwindelig von dem vielen Durcheinanderwirbeln. Ich schlage Purzelbäume, stecke auf einmal in den Zweigen eines Busches fest und werde kurz darauf wieder durch einen neuen Windstoß befreit. Er trägt mich zuerst hoch in die Luft, um mich dann neben einer Mauer fallen zu lassen. Links und rechts von mir liegen noch andere Blätter. Wir sind hier ein bisschen geschützt vor dem Wind, kuscheln zusammen und schlafen tatsächlich bis zum Morgengrauen ein.
Als ich wieder aufwache, ist ein lautes Getöse neben mir und ich spüre wieder einen Luftzug. Ich blinzele und erkenne einen Menschen mit einer Maschine in der Hand, an der ein großer Sack befestigt ist. Ich fühle, dass dies eine große Gefahr ist, denn viele der anderen Blätter verschwinden in dem Rohr und wandern in den großen Sack.
„Ich will da nicht hinein“, denke ich ängstlich. „Diese Maschine verschluckt uns alle.“
Immer mehr presse ich mich in den kleinen Spalt zwischen Erde und der Mauer.
„Vielleicht findet mich hier diese unheimliche Maschine nicht und saugt mich nicht auch noch auf“, so hoffe ich.
Ich verhalte mich ganz still, damit mich kein Mensch bemerkt.
Ich habe Glück, denn der Mensch mit seiner Maschine wandert weiter und entfernt sich immer mehr von mir.
Neben mir kauert auch noch ein kleines Blatt.
„Das war der Laubsauger“, sagt es zu mir.
„Was passiert mit unseren Geschwistern und Freunden, die der Laubsauger gefressen hat?“, will ich wissen.
„Ich habe die Igel sagen hören, dass die Blätter auf einen großen Haufen kommen und den Igeln und anderen kleinen Tieren Schutz bieten. Mit der Zeit werden die Blätter irgendwann zu Erde.“
Als ich traurig auf das Blatt neben mir schaue, versucht es mich zu trösten.
„Das ist nicht schlimm, denn wir werden alle zu Erde und wenn ein Samenkorn auf uns fällt, dann kann daraus wieder eine neue Pflanze wachsen und wir können ihr unsere Nährstoffe geben, damit sie groß und schön wird.“
Ich würde dem kleinen Blatt gerne noch weiter zuhören, aber ein Mädchen steht auf einmal vor mir.
„Schau mal!“, sagt es zu einem Jungen. „Das ist doch ein wunderschönes Blatt. Das nehme ich mit nach Hause.“
Sie hebt mich auf und legt mich in einen Korb, in dem noch andere Blätter liegen. Sie sehen zwar alle unterschiedlich aus, aber wir sind alle Blätter und gehören doch auch irgendwie zusammen. Deshalb fürchte ich mich nicht, denn ich bin ja nicht allein.
Zuhause angekommen legt das Mädchen mich auf ein Stück Zeitungspapier. Sie legt mich damit in ein Buch, deckt mich nochmals mit Zeitungspapier zu und dann klappt sie das Buch zu. Um mich herum ist es ganz dunkel. Zuerst ist mir ein bisschen unheimlich zumute, aber dann fühle ich mich eigentlich ganz wohl. Es ist warm, gemütlich und ganz still. Ich spüre, dass mir keinerlei Gefahr droht. Deshalb schlafe ich auch ganz beruhigt und lange ein.

Ich wache erst wieder auf als ich viele Kinderstimmen höre. Ich blinzele vorsichtig und blicke in staunende Kinderaugen. Das Mädchen, das mich in den Korb gelegt hatte, ist auch dabei.
„Was ist geschehen?“, frage ich mich und schaue mich um.
Die Kinder haben auf ein Stück Tapete einen großen prächtigen und kräftigen Baum gemalt. Jetzt darf jedes Kind die mitgebrachten Blätter an diesem Baum befestigen. Auch ich werde von dem Mädchen an einen Zweig, ganz oben in die Baumkrone gehängt.
Ich bin glücklich, denn ich hänge gemeinsam mit vielen anderen und unterschiedlich aussehenden Blättern wieder an einem Baum.
„Das habt ihr wirklich schön gemacht“, sagt eine Frau. „Das ist jetzt unser Klassenbaum und jeder darf seinen Namen neben ein Blatt schreiben.“
Neben mir steht der Name des Mädchens, das mich aufgehoben und in seinen Korb gelegt hat:

Bettina

 

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8 Kommentare

  1. Ach je, jetzt werde ich beim Laub fegen an deine Geschichte denken müssen. Da kann einem fast jedes Blatt leid tun 🙂
    Bei uns ist das Laub heut unter dem ersten feinen Schnee verschwunden.
    Komm sicher durchs Wochenende, liebe Grüße von Kerstin.

    • Astrid Berg sagt

      Ist der Schnee bei euch tatsächlich liegen geblieben? Bei uns hat es auch ein bisschen „gefusselt“, aber ziemlich kalt war es. Schade, der goldene Herbst hätte ruhig noch ein Weilchen bleiben können.
      Liebe Abendgrüße und ein gemütliches Wochenende.
      Astrid

  2. Liebe Astrid,
    die Geschichte ist wirklich sehr, sehr hübsch! Ich mag Blätter auf Bäumen übrigens auch im Sommer, weil sie den allerbesten Schatten spenden. Laubsauger und erstrecht Laubbläser kann ich allerdings ganz und gar nicht ausstehen, sie schaden all den kleinen Bodenlebewesen und veranstalten einen unsäglichen Lärm. Rechen sind 1000 x besser! Wir lassen das Laub einfach auf der Wiese liegen und beobachten die Amsteln, die unter den Blättern nach Futter suchen. Irgendwann werden die Blätter dann vom Wind in die Beete geweht, da beschützen sie die Pflanzen.
    Kennst du eigentlich Story One? Hier kannst du deine Geschichten in großem Rahmen veröffentlichen: https://www.story.one/
    Herzliche rostrosige Grüße
    und hab eine gute Zeit!
    Traude
    https://rostrose.blogspot.com/2022/11/internationale-glastage-in-der.html

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Traude,
      es freut mich, dass dir meine Geschichte gefällt.
      Eigentlich benutze ich gerne den Laubrechen, um alle Blätter auf einen großen Haufen zu rechen. Allerdings lassen wir diesen dann nicht auf der Wiese liegen, aber wir schaffen trotzdem Ecken in denen zum Beispiel Igel überwintern können.
      Ich danke dir für den Link. Bisher kannte ich diese Seite noch nicht.
      Ich wünsche dir einen schönen Abend.
      Astrid

  3. Das ist aber eine hübsche Geschichte. 🙂
    Ja, alles kommt und vergeht wieder. Aber die Energie, aus der wir bestehen bleibt … das glaube ich zumindest. 🙂

    LG Frauke

  4. welch eine entzückende Geschichte…
    liebe Astrid und ich dachte oft ich bin fast die einzige die hier mit den Blättern, Ästen und der Baumrinde redet, dabei können Blätter .die.vom.Baum.fallen wunderbar erzählen…
    der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt und das ist phänomenal denn jede Grenze engt nur ein und macht nicht unbedingt frei..
    eine wunderschöne Geschichte und ich wünsche diesem einen Blatt und allen Blättern dieser Erde egal wo sie wachsen – kommen . gehen.im werden sind .und wieder gehen alle Freiheiten dieser welt…
    solch Geschichten sollten es noch viel viel mehr geben…
    herzlichst angel

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