Für Kinder, Kurzgeschichten
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Noch ein Schlüssel

Nachdem Opa Friedrich seiner kleinen Enkelin Sabine die Geschichte von den Schlüsselblumen erzählt hat, ist das Mädchen in einen tiefen Schlaf gefallen. Am nächsten Morgen rennt sie sofort zu dem Beet auf dem diese hübschen gelben Blümchen blühen. Sie malt ein Bild auf dem eine Wiese zu sehen ist. Hier wachsen eine Vielzahl von diesen wundersschönen gelben Pflanzen, genauso wie es der Großvater erzählt hat. 

Gerade will sie noch den blauen Himmel und die strahlende Sonne malen, da fällt ein Tropfen auf das Papier. Erschrocken schaut sie nach oben und sieht die dicke dunkle Wolke. Schnell packt sie ihre Sachen zusammen und erreicht gerade noch rechtzeitig die offene Terrassentür, bevor es zu schütten beginnt.

„Oh, da hast du aber Glück gehabt“, meint Oma Erika. „Bist du mit deinem Bild fertig?“

„Nicht ganz, aber den Rest kann ich auch hier im Wohnzimmer malen“, erwidert Sabinchen.

Aber irgendwie hat sie jetzt die Lust verlassen und so kritzelt sie nur noch ein bisschen Blau als Himmel auf ihr Gemälde. Danach holt sie ihre Puppe Laura, aber so recht mag sie jetzt auch nicht mit ihr spielen. Deshalb setzt sie sich auf das Sofa und lässt ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen. 

„Mir ist langweilig!“, ruft sie zu Oma in die Küche, die dort mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt ist.

Oma Erika kommt mit einer Schürze bekleidet und einem Kartoffelschäler in der Hand ins Zimmer. „Willst du mir vielleicht ein bisschen beim Kochen helfen?!“, schlägt sie vor.

„Nö, keine Lust!“, lautet die kurze, aber unmissverständliche Antwort. 

„Dann könntest du mir vielleicht hier im Wohnzimmer ein wenig abstauben. Dazu habe ich heute leider keine Zeit und du würdest mir eine große Hilfe sein“, ist Omas nächster Vorschlag.

„Okay! Wo ist der Staubwedel?“

„In der Abstellkammer“, schallt nun Großvaters Stimme aus einer anderen Ecke des Hauses.

Sabine mag den Staubwedel. Sie hat nämlich mal in einem Kinderfilm gesehen wie ein Staubwedel durch ein Schloss wirbelte und viele wunderbare Dinge entdeckt hat, die dann alle eine Geschichte erzählt haben. „Vielleicht flüstern mir die Dinge auf der Kommode von Oma und Opa auch schöne Geschichten ins Ohr“, überlegt sie und läuft in die Abstellkammer im oberen Stockwerk.
„Da bist du ja! Na, dann mal los!“, ruft sie dem Staubwedel zu und schon rennt sie mit ihm in Richtung Wohnzimmer.
Sie weiß, dass sie beim Abstauben vorsichtig sein muss, denn die Großmutter hat auch kleine Porzellanfiguren und Schälchen auf der Kommode stehen. Sie nimmt jede einzelne Figur in die Hand, betrachtet sie ausgiebig und entfernt den unsichtbaren Staub von ihnen. So schön sie auch sind, doch keine von ihnen scheint ihr etwas erzählen zu wollen. Doch plötzlich sieht sie etwas, das ihr noch nie aufgefallen ist.

„Wieso liegt denn hier ein Schlüssel?“, fragt sie sich. „Und noch dazu ein so riesengroßer.“

Sie dreht und wendet ihn in ihrer kleinen Hand, aber auch er scheint ihr nichts erzählen zu wollen. Trotzdem spürt Sabinchen, dass dieser Schlüssel ein Geheimnis verbirgt. Für Geheimnisse und schöne Geschichten ist Großvater Friedrich zuständig. 

„Opa, was ist denn das?“, fragt sie daher sofort, nachdem sie ihn in seiner Bastelstube aufgestöbert hat.

„Oh!“, meint dieser und in seiner Stimme schwingt schon das große Geheimnis mit. „Das ist ein ganz besonderer Schlüssel, den wir jetzt auch ganz schnell wieder dort hinlegen, wo du ihn gefunden hast. Der darf nämlich nicht verloren gehen, sonst ist Oma Erika ganz traurig.“ Er verschweigt, dass dies schon einmal passiert ist und dieser Schlüssel nur den verlorengegangenen Orginalschlüssel ersetzt.
Sabine bekommt vor Neugierde ganz große Augen. Sie nimmt ihren Großvater an der Hand und geht mit ihm ins Wohnzimmer. 

„Dort“, sagt sie und deutet auf die Stelle auf der Kommode, wo sie den Schlüssel zuvor entdeckt hat.

„Erzählst du mir seine Geschichte?! Bitte, bitte!“

„Es ist fast schon hundert Jahre her“, beginnt Opa Friedrich, der sich inzwischen in einem Sessel niedergelassen hat. Sabine setzt sich auf seinen Schoß und lauscht andächtig.

„Damals, Anfang des Jahres 1922, war der Großvater deiner Oma Erika noch ein junger Mann und heiratete seine geliebte Klara, also deine Ururoma. Noch am Ende des selben Jahres kam dann deine Uroma, also die Mama von Oma Erika, auf die Welt.“

„Von ihr hat mir Mama mal ein Foto gezeigt. Sie hatte ganz weiße Haare und war alt!“, wirft Sabinchen ein.

„Ja, sie hätte dich bestimmt sehr gemocht, aber leider ist sie schon vor deiner Geburt von uns gegangen.“

„Erzähl weiter!“ Sabine will endlich das Geheimnis des Schlüssels erfahren.

„Also, dein Ururopa hat einen Monat nach der Hochzeit eine hübsche Kaminuhr gekauft und sie seiner Klara geschenkt. Die beiden waren überglücklich, denn ein Baby hatte sich angekündigt, wie gesagt, deine Uroma. Schau dort neben dem Schlüssel steht diese Uhr, die von deiner Ururoma, an deine Uroma und von ihr an deine Oma Erika weitervererbt wurde. Eines Tages wird deine Mama diese Kaminuhr bekommen und irgendwann an dich weitergeben.“

„Und ich schenke sie dann meiner Tochter!“, führt Sabine die Erzählung weiter.

„Oder an deinen Sohn!“, meint Opa Friedrich, „Wer weiß…“

Inzwischen ist Sabine aufgestanden und steht ehrfurchtsvoll vor der Kaminuhr.

„Und was hat das mit dem Schlüssel zu tun?“

„Schau mal ganz genau auf das Zifferblatt und verrate mir dann, was du entdeckt hast“, lautet die Antwort von Opa Friedrich.

„Da sind zwei Löcher drin!“, ruft Sabinchen plötzlich aus.

„Genau, die sind ganz wichtig“, beginnt der Großvater zu erklären, wird allerdings durch den Ruf der Großmutter unterbrochen.

„Das Mittagessen ist fertig! Kommt bitte!“

„Aber ich weiß doch noch nicht, wofür der Schlüssel ist…“, versucht das Mädchen einen erneuten Vorstoß.

„Jetzt gehen wir erst einmal zum Mittagessen und danach zeigt dir Oma, was der Schlüssel mit der Uhr zu tun hat und welche Bedeutung die beiden Löcher im Zifferblatt haben.“

So schnell wie heute, hat Sabine noch nie ihren Teller geleert und würde am liebsten noch auf den Nachtisch verzichten. Zu allem Unglück muss auch hinterher noch das Geschirr abgespült werden. Aber dann ist es endlich soweit. Die Großeltern sitzen mit Sabine um den Wohnzimmertisch herum, auf dessen Mitte die Kaminuhr steht. Oma Erika nimmt den Schlüssel und steckt ihn in eines der beiden „Löcher“ im Zifferblatt.
Andächtig lauscht Sabine schon bald dem Ticken und dem Klang dieser geheimnisvollen Uhr. 

 

 

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8 Kommentare

  1. Liebe Astrid,
    ich selbst besitze auch noch solch eine alte Kaminuhr meiner Großmutter (die 1903 geboren wurde – aus welchem Jahr die Uhr stammt, weiß ich allerdings nicht. Sie seht dieser hier sehr ähnlich – https://www.dhd24.com/azl/index.php?anz_id=84146507 – und die stammt aus den 1930erJahren). Allerdings ziehe ich die Uhr niemals auf. Ich mag weder tickende noch schlagende Uhren (und ich glaube, ich hab dir auch mal erzählt, dass ich keine Armbanduhren mag. Kurzfristig trug ich dann doch eine, weil die auch meinen Puls maß, aber dank dre „Corona-Entschleuningung“ ist mein Puls jetzt wieder ganz ruhig und die Uhr liegt wieder in einer Schachtel. Deine Uhren- bzw. Schlüsselgeschichte mochte ich jedenfalls sehr 🙂
    Herzliche Mai-Grüße!
    Traude
    🌿🌸🌱💐🌿
    https://rostrose.blogspot.com/2020/04/auf-den-spuren-des-ludwig-van-in-baden.html

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Traude,
      die Kaminuhr stammt nicht aus unserer Familie. Wir haben sie von einer Frau erworben. Sie hat uns einige Fakten zur Geschichte dieser Uhr und ihrer Familie erzählt und ich habe dies in meiner Kurzgeschichte eingearbeitet.
      LG
      Astrid

  2. Moin liebe Astrid,
    das ist eine schöne Geschichte und herrlich wenn Kinder so neugierig sind.
    Ich mag solche Traditionen, leider gibt es immer eine Generation die es dann nicht weiter führt… schade eigentlich.

    Hab einen schönen Tag.
    Liebe Grüße
    Biggi

    • Astrid Berg sagt

      Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass auch ich immer wollte, dass meine Eltern aus ihrer Kindheit erzählen. Vielleicht liegt diese kindliche Neugier auch daran , weil man sich als Kind schlecht vorstellen kann, dass auch die Erwachsenen einst klein und unerfahren waren 😉 .
      Ich wünsche Dir eine schöne Restwoche und schicke liebe Grüße.
      Astrid

  3. Eine schöne Geschichte, liebe Astrid. Ich mag es, wenn Kinder neugierig sind und mit großem erwartungsvollem Gesichtsausdruck auf Antwort bzw. Erklärungen warten. Die Geschichte ist wie aus dem Leben gegriffen.

    Bleib gesund und sei lieb gegrüßt
    Traudi

    • Astrid Berg sagt

      Soll ich Dir was verraten: Diese Uhr gibt es tatsächlich und sie wurde auch weitergegeben. Nur wurde diese Weitergabe irgendwann abgebrochen und die Uhr wurde verkauft. So gelangte sie schließlich zu uns.
      Sei herzlich gegrüßt
      Astrid

  4. Ja, das waren noch Zeiten mit diesen Uhren. Heut mag sie fast keiner mehr, weil man sie aufziehen muss. Wir hatten auch so eine, geschwungen gearbeitet. Meine Schwester hat sie in einem Zimmer stehen.
    Bei uns ist es zur Tradition geworden, zur Geburt eines Kindes einen Ring weiter zu reichen. Meine Schwiegermutter hat einen geerbt mit einem Saphir und Kristall. Den schenkte sie mir zu Geburt von unserem ersten Sohn. Ich habe ihn nun zur Geburt unserer Enkelin der Schwiegertochter weiter gericht mit der Bitte, diese Tradition eines Tages fortzusetzen. Für Schwiegertochter Nr. 2 habe ich auch noch einen, den ich von der Schwiegermutter bekommen habe.
    Liebe Grüße von Kerstin.

    • Astrid Berg sagt

      Das ist eine wirklich schöne Tradition. In unserer Familie gibt es eine Taschenuhr, die der Großvater meines Mannes zum 25jährigen Dienstjubiläum bekam und und die mein Schwiegervater geerbt hat. Nach dessen Tod hat sie mein Mann erhalten und er wird sie irgendwann an unseren Sohn weitergeben.
      Sei herzlich gegrüßt
      Astrid

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