Kurzgeschichten
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Mit Brille wäre das nicht passiert, – oder doch?

Als Kind musste ich immer für meine Mutter den Faden in das Nadelöhr einfädeln. Für mich war es total unverständlich, dass man mit diesem dünnen Fädchen das in meinen Augen große Loch nicht treffen sollte. Später dann in meiner Referendarzeit bot ich sogar dem Schuldirektor an, ihm die Zeitung zu halten, da ich merkte, dass seine Arme anscheinend zu kurz waren, um die Buchstaben, Wörter und Sätze klar und deutlich zu sehen und somit die Zeitung lesen zu können. 

Mit Brille wäre das nicht passiert!“, dachte ich mir damals.
„Ja, als Nicht- Brillenträger ist das alles schwer nachvollziehbar“, meint Peter, der schon in Kindheitstagen ein Nasenfahrrad verordnet bekam.
„Aber anscheinend hilft die Brille nicht immer und überall!“, kontere ich.
„Soll das eine Anspielung sein?“, fragt er zurück.
„Wieso?“
„Das ist ja wohl schon ewig her und hätte dir auch passieren können“, verteidigt er sich.
„Das wiederum muss ich strikt zurückweisen“, erkläre ich ihm.
Lange ist es tatsächlich schon her. Es war auf jeden Fall vor Timos Geburt, also mindestens schon vor fünfundzwanzig Jahren. Wir hatten damals bei meiner Mutter übernachtet. Ich war bereits schon unten in der Küche, während Peter noch oben im Badezimmer zugange war. Plötzlich wurde die Küchentür aufgerissen und ein verärgerter Peter schneite herein. Ohne einen Morgengruß stand er vor mir und meiner Mutter. Er streckte beide Arme von sich und erinnerte mich an einen Erwachsenen, der sich in seinen Konfirmandenanzug gezwängt hat. Bei seinem Anblick bekam ich einen Lachanfall und meine Mutter konnte sich ebenfalls das Lachen nicht verkneifen.
„Was hast du mit meinem Hemd gemacht?“, fragte er mich total entrüstet. „Das hast du wohl zu heiß gewaschen?“
Tatsächlich stand er in einem weißen Hemd vor mir, das aus allen Nähten zu platzen schien und dessen Ärmel vollkommen zu kurz waren.
„Wenn ich jetzt auch noch versuche die Knöpfe zu schließen, dann ist das Hemd kaputt. Aber das ist ja schon egal, ich kann es so und so nicht mehr anziehen!“, meinte er verärgert.
Ich konnte vor Lachen gar kein Wort herausbringen und hatte schon totale Bauchschmerzen. Das lag nicht nur an der Tatsache, dass Peter urkomisch aussah, sondern auch daran, dass ich genau wusste, was passiert war. Und das war wieder einmal typisch für meinen Peter, der mit seinen Gedanken überall war, aber nicht bei so banalen Dingen, die das Anziehen betreffen.
„Das ist …“, brachte ich gerade unter meinen Lachkrämpfen hervor.
„… in der Tat vollkommen zu klein“, ergänzte meine Mutter meinen abgebrochenen Satz und konnte ihr Grinsen ebenfalls nicht verbergen.
„Hör jetzt endlich auf zu lachen und gib mir bitte was Vernünftiges zum Anziehen.“
„Wo hast du das denn her?“, japste ich vollkommen außer Atem.
„Das hing oben an der Schranktür“, erklärte er mir.
„Genau, da habe ich sie vorhin auch hingehängt“, bestätige ich. „Weil ich sie nachher anziehen will, wenn wir zu deinen Eltern fahren!“
„Seit wann ziehst du denn meine Hemden an?“
„Wer spricht hier von deinen Hemden? Ich habe meine weiße Hemdbluse an den Schrank gehängt und in der steckst du jetzt drin. Dein Hemd hängt auf einem Bügel und der wiederum hängt an einem Garderobenhaken neben dem Schrank.“
Ob dies mit Brille nicht passiert wäre, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, da sich keiner von uns noch erinnern kann wo sich zum besagten Zeitpunkt Peters Sehhilfe befand, ob sie auf seiner Nase saß oder irgendwo herum lag. Bei einer anderen Ankleideaktion, die Jahre später und einige Wochen nach Timos Geburt passierte, befand sich die besagte Brille jedenfalls dort, wo sie auch hingehörte, auf Peters Nase.
Im Zuge der Gleichberechtigung hatte Peter an diesem Tag die Aufgabe übernommen bei unserem Sohn die Windeln zu wechseln und ihm einen neuen Strampelanzug anzuziehen. In der Zwischenzeit hantierte ich in der Küche herum und war mir eigentlich recht sicher, dass mein Mann die ihm übertragene Aufgabe sowohl pflichtbewusst als auch korrekt ausführen würde. Als ich jedoch nach geraumer Zeit unseren Sohn etwas unbehaglich vor sich hin knottern hörte, wunderte ich mich, denn Timo war eigentlich ein recht zufriedener Geselle. Fast gleichzeitig erklang aus dem Badezimmer Peters Stimme:
„Ich brauch dich mal!“
Irgendetwas stimmte hier nicht, also eilte ich meinem Mann und meinem Sohn zur Hilfe.
„Was hast du denn hier für einen neumodischen Mist gekauft? Das passt doch hinten und vorne nicht!“, empörte sich Peter über den Strampelanzug und Timo verzog schon sehr bedenklich sein Gesicht.
Ein Blick und alles war mir klar.
„Stimmt! Das passt hinten und vorne nicht“, bestätigte ich meinem Mann. „Aber das liegt weder an dem neuen Strampler noch an Timo, sondern an dir.“
„Wieso an mir? Das Ding hat einen ganz seltsamen Schnitt. Wenn ich Timos Arme drin habe, dann kriege ich die Beine nicht mehr rein und wenn ich die Beine drin habe, passen die Arme nicht mehr rein!“, erklärte er mir und wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als mir zu sagen:
„Mach du das mal! Ich hab es schließlich nicht gekauft. So was Unpraktisches habe ich noch nie gesehen. Alles neumodischer Kram.“
„Ach Quatsch“, erklärte ich dem jungen Vater. „Wenn du auch die Arme durch die Beinöffnung und die Beine durch die Armöffnung zu stecken versuchst, brauchst du dich über nichts zu wundern.“
Das mit dem Anziehen scheint schon eine schwierige Sache zu sein. Ist es mit Brille schon nicht einfach, so erweist es sich ohne diese Sehhilfe als ein noch größeres Problem. Jedenfalls für meinen lieben Peter.
In regelmäßigen Zeitabständen muss ich jedenfalls feststellen, dass er eine gewisse Vorliebe beim Tragen von T-Shirts und Schlafanzugoberteilen hegt. Zunächst einmal setzt er seine Brille ab, denn diese könnte ja beim Anziehen von der Nase rutschen, was die einschlägige Erfahrung über die Jahrzehnte hinweg schon bewiesen hat. Nach dieser Vorbereitung greift mein Mann sich das Teil ohne es näher unter die Lupe zu nehmen und stülpt es sich über den Kopf. Jetzt folgt der dritte Schritt der Ankleidephase, nämlich das mehrmalige Drehen des Oberteils um den Hals, ähnlich einem kreisenden Karussell. Im vierten Schritt stoppt er diese Drehungen, welche Kriterien ihn dazu veranlassen, ist mir etwas schleierhaft. Im fünften und letzten Schritt schlüpft er dann mit den Armen durch die dafür vorgesehenen Öffnungen. Geschafft! So denkt er jedenfalls!
Nicht immer fällt es mir sofort auf, aber immer öfter. Ich weiß nämlich inzwischen, dass mein Mann eine ganz bestimmte Vorliebe zu besitzen scheint. Aber ich glaube es ist eher Unachtsamkeit, dass er seine T-Shirts und Schlafanzugoberteile mal von der linken und mal von der rechten Seite trägt.
Ist Unachtsamkeit noch kombiniert mit Neugierde, dann nutzt auch eine Brille nichts mehr. Das schönste Beispiel hierfür ist schon wieder mein Mann.
„Ich glaube, ich würde immer wieder darauf reinfallen“, erklärt mir Peter als ich eine Andeutung mache, die ihm eine zurückliegende Begebenheit ins Gedächtnis rufen soll.
Damals wohnten wir noch in Darmstadt und machten an einem Samstag einen Einkaufsbummel durch die Innenstadt. In einem Kaufhaus war ein Tisch aufgebaut auf dem kleine Haushaltshelfer lagen. Einige Frauen standen rund herum und betrachteten die Teile. Wäre ein kleiner Schimpanse zugegen gewesen, so hätte er sicherlich das gleiche Verhalten an den Tag gelegt, das auch mein Peter beim Anblick dieses Verkaufstisches zeigte: Er marschierte geradewegs auf den Tisch zu und griff sich verschiedene Teile, um diese zu begutachten. Ein kleines rot- weißes Ding erregte allerdings seine Neugier und damit einhergehend seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er drehte es zwischen seinen Fingern hin und her, konnte sich allerdings keinen Reim daraus machen, wozu dieses Etwas von Nutzen sein könnte. Schließlich begann er es nicht nur zu drehen und zu wenden, sondern auch noch abzutasten und zu drücken.
„Au!“, hörte ich ihn plötzlich schreien. „Verflixt noch einmal!“
Peter hielt mir seinen Finger hin, von dem ein Blutstropfen auf den Boden fiel.
„Was hast du denn gemacht?“
Wortlos hielt er mir das Ding hin und zuckte nur mit den Schultern. Ich musste jedoch fürchterlich lachen, denn mein Mann hatte auf einen Eierpikser gedrückt und dessen Nadel hatte ihn in den Finger gestochen.

Sehhilfe hin, Sehhilfe her.

Peter passieren diese Dinge, – egal ob mit oder ohne Brille.

2 Kommentare

  1. Liebe Astrid,
    ich bedanke mich herzlichst für deinen Besuch auf meinem Blog und dem Eintrag in mein Gästebuch.
    Gerade unter diesem Beitrag muss ich gestehen, dass meine Augen, mit oder ohne Brille, auch mir öfter als es mir lieb ist, Streiche spielen. Leider verdammen sie mich auch dazu, dass ich deine Geschichten nur häppchenweise lesen kann. Gerade solche Berichte aus dem Leben gegriffen, sind immer interessant, weil man sich mit ihnen am besten identifizieren kann.
    Ich schau aber sicherlich nochmal vorbei
    Liebe Grüße an dich und deinen Peter (so einen habe ich auch, nämlich einen Peter) und bis bald.
    Lisa

  2. Corinna Steinweg sagt

    Mit auf links gedrehtem Pullover erschien er auch schon mal bei uns zu Besuch, und lachte etwas schelmisch, nachdem ich ihn daraufhin ansprach. Ja, so kennen wir den lieben Peter und es macht ihn dafür um so sympathischer. Mit seiner lieben Frau Astrid
    an seiner Seite, hat er doch immer „scharfe Augen“ bei sich, zur Hilfe.

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