Erdachtes & Erzähltes, Kurzgeschichten
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Der Einzelgänger (1)

Heute und in den nächsten Folgen möchte ich Euch eine Person vorstellen, die ich mir vor geraumer Zeit einmal im Zusammenhang mit einer anderen längeren Erzählung erdacht habe. Das Schicksal dieser Person ist zwar rein fiktiv, aber durchaus nicht unvorstellbar, wenn auch in abgewandelter Form. Doch entscheidet selbst:
Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm. Sein Leben stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Seine Eltern waren unbekannt und er selbst konnte sich an nichts erinnern. Alles, was er über sich selbst, beziehungsweise über seine Herkunft wusste, kannte er nur, weil man es ihm erzählt hatte.
Er war vermutlich am Tag seiner Geburt, den man auf den 24.6. datierte, vor einer Pfarrhaustür abgelegt worden. Die Pfarrköchin hatte ihn in den frühen Morgenstunden rein zufällig gefunden, weil sie ein lautes Hupen auf der Straße vernommen hatte. Zunächst dachte sie, dass dies schon der Metzger sei, der versprochen hatte bereits in aller Frühe die bestellten Würste und das Fleisch vorbeizubringen.
„Oh Gott! Oh Gott!“, stieß sie aus, als sie die Haustüre öffnete.
„Frau Löffele, was ist passiert, dass sie so laut nach unserem Herrgott schreien?“ rief der Pfarrer nichts ahnend aus seinem Arbeitszimmer.
„Kommen Sie schnell und schauen sie selbst, Herr Pfarrer! Dieses arme Würmchen lag vor unserer Tür! Fast wäre ich über das Körbchen gestolpert.“
Der arme kleine Kerl lag darin und war in eine zerschlissene Decke eingewickelt. Es gab keinen Brief, keinen Hinweis auf seine Herkunft, einfach nichts.
„Wir sollten den kleinen Jungen taufen und ihm einen Namen geben“, sagte der Pfarrer zu seiner Köchin, bevor der herbei gerufene Arzt kam, um das Kind zu untersuchen. „Sie sind doch eine Frau und kennen sich mit Namen bestimmt aus.“
Tatsächlich hatte die Köchin eine Idee: „Denken Sie doch nur daran, welcher Tag heute ist!“, meinte sie nur. Und so hatte er seinen Namen bekommen:
Da er als Findelkind am Johannistag, der an Johannes den Täufer erinnern soll, gefunden wurde, gab man ihm den Namen Hannes Findel, Hannes von Johannes und Findel von Findelkind. Nicht gerade sehr einfallsreich, wie er selbst später meinte, aber auf diesen Namen war er im Standesamtsregister eingetragen und so blieb es. Und außerdem hatte er sich irgendwie mit der Zeit daran gewöhnt.
In Windeseile hatten sich die Ereignisse herumgesprochen und jeder hatte eine eigene Meinung dazu.
„Da liegt ein Baby einfach so vor der Pfarrhaustür, weil irgendwo eine Frau in Not war und nicht wusste wohin mit dem Kind.“
„Wie kann man nur sein eigenes Kind weggeben?“
„Unvorstellbar, wenn der kleine zu spät gefunden worden wäre!“
Eine Babyklappe gab es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht in der Stadt und so war das Pfarrhaus die einzige Rettung. Gott sei Dank! Erst nach diesem Vorfall hörte man in allen Ecken und Winkeln den Ruf nach einer Babyklappe. Vorher war man darüber geteilter Meinung gewesen, außerdem war so etwas vielleicht andernorts von Nöten, aber doch nicht in dieser Stadt. Hier passierte doch so etwas nicht. Doch jetzt war plötzlich schon jeder von Anfang an dafür gewesen. Wie das eben so ist mit der Meinungsbildung. Das Gerede überschlug sich förmlich:
„Ich habe es ja immer schon gesagt: So was kann überall passieren. Man weiß ja nie welche Leute hierher kommen.“
„Das kann nur eine Fremde gewesen sein.“
„Warum man nicht schon längst eine Babyklappe in unserer Stadt eingerichtet hat?! Man liest es doch allerorts.“
„Es könnte doch auch mal einer jungen Frau von hier passieren!“
„Es gibt inzwischen so viele Fremde hier in der Gegend, von denen man nichts weiß.“
Man vermutete tatsächlich, dass die Mutter des Findelkindes eine Durchreisende gewesen sein musste, denn man kannte keine Frau in der näheren Umgebung, die als Mutter in Frage gekommen wäre. Auch in den Hotels und Pensionen war keine Hochschwangere in Erscheinung getreten. Im Krankenhaus hatte es an diesem Tag keine Entbindung gegeben und auch sonst gab es keinerlei Anzeichen für eine plötzliche Geburt auf einer öffentlichen Toilette oder dergleichen. Man tappte völlig im Dunkeln.
Auch gesehen hatte niemand etwas, jedenfalls nicht wirklich. Der eine oder andere glaubte ein fremdes Auto, also mit einem nicht ortsüblichen Kennzeichen gesehen zu haben, doch die Aussagen unterschieden sich hinsichtlich des Wagentyps, der Farbe des Fahrzeuges und an das Kennzeichen konnte sich schon keiner erinnern. Aber vom Himmel gefallen, konnte das Kind ja auch schlecht sein.
Anfangs ging man der ein oder anderen vermeintlichen Spur nach, doch irgendwann gab man die Suche nach der Mutter auf, so hatte man jedenfalls den Eindruck. Auch die Medien zogen sich nach den ersten auf Hochtouren laufenden Berichten und den fehlenden Ergebnissen zurück. Der Vorfall wurde sozusagen ad acta gelegt. Man klappte gewissermaßen den dafür eigens angelegten Ordner zu und setzte lediglich den Vermerk „Mutter und Vater nicht auffindbar“ darunter.
„Wir werden in jedem Fall weiter ermitteln“, versprach man. „Doch im Moment haben wir noch keinen neuen Anhaltspunkt. Aber wir gehen jedem Hinweis nach. Jederzeit! Manchmal dauert es Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte. Doch die Erfolgsquote ist hoch.“
Nach ein paar Tagen im Pfarrhaus kam der kleine Junge, dessen Gesundheit festgestellt worden war, bei einer Pflegefamilie unter. Die ganze Geschichte hätte einen glücklichen Verlauf nehmen können, wenn es das Schicksal nicht anders für den kleinen Jungen vorgesehen hätte. Leider konnte ihn die Pflegefamilie nur einige Monate behalten. Zu allem Unglück war die Mutter der Pflegefamilie plötzlich und unerwartet verstorben und ihr Mann musste beruflich für längere Zeit ins Ausland und konnte den kleinen Jungen nicht mitnehmen. Man versuchte ihn anderweitig unterzubringen, doch das fremde Kind, von dem niemand wusste, welcher Herkunft es war und welche Gene ihm innewohnten, wollte niemand haben.
„Wer weiß aus welchem Milieu er stammt und was Vater und Mutter ihm vererbt haben“, so redeten die Leute unter vorgehaltener Hand.
Man erzählte sich dies und das, dichtete dazu und malte die ganze traurige Geschichte in den trübsten Farben aus. Und so kam er ins Kinderheim und galt fortan als schwer vermittelbar.

 

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12 Kommentare

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Anna-Lena,
      Danke fürs Lesen und Deinen lieben Kommentar. Insgesamt sind es drei Folgen.
      LG
      Astrid

    • Astrid Berg sagt

      Die Fortsetzung ist schon da, liebe Grete. Heute habe ich sie eingestellt, aber auch nach diesem 2. Teil geht es noch weiter.
      LG und einen schönen Sonntagabend
      Astrid

  1. Hallo Astrid,

    solche Geschichten schreibt das Leben, wohl immer wieder – leider.
    Erinnert mich sofort an Kaspar Hauser, Du kennst ihn sicher.

    Hat mir gut gefallen, wenn auch sehr traurig.

    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
    Björn 🙂

    • Astrid Berg sagt

      Du magst recht haben, aber ihn hatte ich nicht im Hinterkopf, als ich die Geschichte schrieb und der Fortlauf wird sich wohl auch unterscheiden.
      Ich freu mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat. Man kann nicht nur lustige Geschichten zaubern, da das Leben leider so ist.
      LG
      Astrid

  2. Martina sagt

    Ich reihe mich ein: Eine traurige Geschichte, die sich so hätte zutragen können. Wie es wohl weiter geht mit Hannes. Alles ist offen! – Ich wünsche dir ein sonniges Wochenende! Martina

    • Astrid Berg sagt

      Ich bin im Moment die Einzige, die den Fortgang kennt. Hannes wird kein einfaches Leben haben, soviel kann ich schon einmal verraten. die nächste Folge kommt in Kürze…
      Ich wünsche Dir ebenfalls ein sonniges Wochenende und schicke Dir liebe Grüße
      Astrid

  3. Liebe Astrid, vielen Dank für die traurige, aber schöne Geschichte, die du sehr gut angefangen hast, zu erzählen. Sie könnte aus dem wirklichen Leben stammen. Mal sehen wie es weitergeht …

    Wünsche dir einen schönen Freitag, herzlichst Margot.

    • Astrid Berg sagt

      Ja, liebe Margot, ich bin überzeugt, dass es ähnliche Schicksale gibt oder schon gegeben hat. Ich stelle es mir sehr schwer und traurig vor, ohne Familie zu leben. Hannes Weg wird nicht einfach sein, doch mehr wird an dieser Stelle noch nicht verraten.
      LG und eine schönen Freitag
      Astrid

  4. Guten Morgen liebe Astrid,
    ich bin sehr gespannt, wie es Hannes weiterhin ergehen wird. Eine schöne, interssante Geschichte!
    Herzliche Grüße
    Regina

    • Astrid Berg sagt

      Danke, liebe Regina,
      in der nächsten Fortsetzung am Dienstag wirst Du wieder ein bisschen mehr über ihn erfahren. Sein Leben ist zumindest nicht einfach, so ohne Familie.
      LG
      Astrid

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