Kurzgeschichten
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Die Christel von der Post

Manche von Euch werden sich an den gleichnamigen Heimatfilm Ende der Fünfziger Jahre erinnern. Als Kind der Sechziger kenne ich selbstverständlich diesen Film. Die Geschichte, die ich heute erzählen will, hat zwar damit nichts zu tun, sondern nur mit meiner Kindheit, aber Ihr werdet auch gleich verstehen, warum ich diesen Titel gewählt habe. Also folgt mir zunächst in das Jahr 1967.

Ich, also Klein Astrid, bin jetzt schon in der zweiten Klasse. Mir bereitet die Schule große Freude und ich nehme mit vor Eifer hochroten Wangen am Unterricht teil. Unseren Klassenlehrer mögen wir alle, egal ob Mädchen oder Junge. Er ist ein guter Lehrer, der es versteht die Kinderherzen für das Lesen, Schreiben und Rechnen zu begeistern. Während wir in der ersten Klasse noch auf unsere Schiefertafeln geschrieben haben, dürfen wir jetzt in richtige Hefte schreiben, rechnen und malen. Wir sind ja nun schon groß und keine Schulanfänger mehr.
Es ist der erste Schultag nach den großen Ferien. Vor dem Schulhaus haben wir uns in Zweierreihe aufgestellt und folgen nun dem Herrn Lehrer in den Klassenraum. Folgsam begrüßen wir ihn im Chor, während wir hinter unseren Stühlen stehen.
Heute befindet sich bei der Begrüßung ein Mädchen an seiner Seite. Sie ist in unserem Alter und wirkt ein wenig schüchtern. Sie hat einen kurzen Haarschnitt und sieht auch sonst nett aus. Wir haben sie noch nie zuvor gesehen und sind ganz neugierig, wer das wohl sein mag.
„Ihr habt ab heute eine neue Mitschülerin“, erklärt uns unser Lehrer. „Sie heißt Christel* und ist mit ihren Eltern in unsere Stadt gezogen.“
Und dann beginnt er die Sitzordnung abzuändern und setzt diese neue Mitschülerin mit mir zusammen in die erste Reihe. Ich ahne zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dies der Beginn einer dicken Freundschaft ist und wir uns von nun an bis zur 13. Klasse die Schulbank teilen werden. Wir sitzen fortan immer zusammen und verbringen auch außerhalb der Schule viele gemeinsame schöne Stunden miteinander.
Wir wohnen allerdings an den entgegengesetzten Enden unserer Stadt und wenn wir uns besuchen wollen, dann ist es immer ein weiter Weg. Christel wohnt im Posthaus. Sie ist also sozusagen die Christel von der Post.
Die Schulglocke klingelt und für uns ist an diesem Tag der Unterricht aus. Wir sind noch im zweiten Schuljahr, aber schon dicke Freunde. Irgendwie haben wir keine Lust uns nach Schulschluss zu trennen und so frage ich meine Freundin:
„Willst du nicht mit mir nach Hause gehen? Wir können doch die Hausaufgaben zusammen machen und dann ein bisschen spielen.“
„Klar, ich begleite dich heim!“
Christel und ich sind von dieser Idee begeistert und machen uns auf den Weg, der selbstverständlich heute auch ein bisschen länger dauert. Schließlich entdeckt jeder von uns etwas Interessantes am Wegrand.
Als wir zu Hause bei mir ankommen, werden wir auch freundlich von meiner Mutter begrüßt.
„Hallo Ihr Beiden! Schön, dass Du auch da bist, Christel!“, und schon schiebt meine Mutter eine Frage nach:
„Weiß Deine Mutter, dass Du heute gleich nach der Schule bei uns bist?“
„Ach“, meint Christel, „meine Eltern wissen schon, dass ich dann bei Astrid bin. Das geht schon alles klar.“
Sie sagt dies so selbstsicher und entschieden, dass keinerlei Zweifel an der Aussage aufkommt.
„Dann kommt rein und wascht Euch die Hände! Das Mittagessen ist fertig!“
„Was gibt es denn?“, erkundigen wir uns wie aus einem Munde.
„Ich habe Spinat gekocht und dazu gibt es Kartoffeln. Möchtet Ihr auch noch jeder ein Spiegelei und ein Stück Fleischwurst dazu?“
Christel und ich geben jeder den Essenswunsch bekannt und nehmen nebeneinander Platz.
Rahmspinat esse ich gerne, aber heute schmeckt er besonders gut und auch Christel schmeckt es. Wir sind beide guter Dinge, kichern und albern herum.
Mit der besten Freundin gemeinsam das Mittagessen einnehmen, macht einfach Spaß. Sogar auf das Hausaufgabenmachen freuen wir uns und löffeln fleißig den Spinat.
Meine Mutter schaut uns erfreut dabei zu. Ist doch ihr Töchterchen sonst eher ein Suppenkasper und keine allzu gute Esserin. Aber heute schmeckt es allen und der Topf mit dem Spinat wird leer.
Aber irgendwie schaut meine Mutter uns ein bisschen skeptisch an und will sich noch einmal vergewissern, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
„Christel, du hast auch ganz sicher Deiner Mutter heute Morgen schon gesagt, dass Du mit Astrid zu uns kommst?“
„Naja“, meint Christel und schiebt einen weiteren Löffel mit Spinat in den Mund. „Wo soll ich denn sonst sein. Ist doch klar, dass ich bei Astrid bin.“
Meiner Mutter scheint auch etwas glasklar zu sein, denn sie beschließt plötzlich.
„Wenn Ihr Beide aufgegessen habt, dann bringen Astrid und ich Dich erst einmal nach Hause. Deine Eltern machen sich doch bestimmt Sorgen. Ja, wenn wir ein Telefon hätten, dann wäre das alles kein Problem.“
„Ach, die machen sich schon keine Sorgen!“, sagt Christel und auch ich pflichte ihr bei.
„Die denken sich das schon, dass sie mit zu mir gekommen ist. Ist doch auch ganz logisch.“
Doch damit können wir meine Mutter nicht beruhigen und schon gar nicht überzeugen.
„Von mir aus kannst Du morgen nach der Schule zu uns kommen, wenn Deine Eltern Bescheid wissen. Aber nachher laufen wir erst einmal gemeinsam zu Dir nach Hause.“
Während wir noch die Reste aus unseren Tellern kratzen und flüsternd Pläne schmieden, wie wir das Unabänderliche noch etwas hinaus zögern können, hören wir plötzlich vor dem Haus ein Hupkonzert.
Wir recken unsere Hälse, aber meine Mutter steht auf und geht zum Fenster, um es zu öffnen und nachzusehen, wer dort so laut und unüberhörbar hupt.
Inzwischen haben wir auch so eine Vermutung. Als wir eine männliche Stimme vernehmen und auch die gestellte Frage hören, wissen auch wir, was los ist.
Vor dem Haus steht ein großes Postauto. Der Postbote am Steuer kurbelt das Fenster herunter und ruft meiner Mutter die Frage zu:
„Ist die Christel hier?“
Wir sehen wie meine Mutter nickt.
„Sie soll sofort nach Hause kommen. Ihre Eltern machen sich schon Sorgen. Sie haben gesagt, ich solle mal bei Astrid vorbei schauen, weil sie ja wahrscheinlich hier ist. Sie haben sich schon so etwas gedacht.“
Tja, was bleibt uns jetzt anderes übrig, als sich dem Schicksal zu ergeben. Christel packt ihre sieben Sachen zusammen, verabschiedet sich von mir und meiner Mutter und bedankt sich höflich für das Mittagessen. Danach steigt sie in das Postauto und wird nach Hause gebracht.
„Siehst du“, ruft sie mir zum Abschied noch zu. „Ich habe es doch gesagt, sie wissen genau, wo ich bin.“
Und zu meiner Mutter meint sie entschuldigend:
„Ich kann doch nur bei Astrid sein! Wo sonst?!“

* Der Name ist abgeändert.

 

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16 Kommentare

  1. Liebe Astrid, was für eine wunderschöne Geschichte aus Deinen Kindertagen. Da ich neugierig bin, was ist aus Christel von der Post geworden? Liebe Grüße Eva

    • Astrid Berg sagt

      Leider haben wir uns mit den Jahren ein wenig aus den Augen verloren. Aber noch viele Jahre später erinnerten wir uns gemeinsam an diese Begebenheit und wussten genau, dass es Spinat zum Mittagessen gab.
      LG
      Astrid

  2. Hallo Astrid,

    die Christel von der Post ist ja schon fast ein stehender Begriff geworden, heute muss man ja die Post erst einmal suchen, so wenige „echte“ Postniederlassungen gibt es.

    Ich kenne noch das Lied, mit Lilian Harvey 🙂 habe ich als Schellackplatte.

    Die Christel von der Post kannte ich sogar persönlich, wenn auch eine Andere 😉

    Lieben Gruß
    Björn 🙂

    • Astrid Berg sagt

      Hallo Björn,
      meine Christel von der Post hatte einen anderen Namen, aber sie wohnte im Posthaus. In der Mittagspause hat sie sogar mit den Postboten Fußball gespielt. Es war eben eine ganz andere Zeit damals.
      LG
      Astrid

  3. Heute würden wohl bei den Eltern die Alarmglocken schrillen, wenn das Kind nicht gleich nach Hause kommt. Damals haben wir die Uhrzeit auch nicht so genau genommen und unsere Mutti hat uns manches mal gesucht.
    Den Film kenne ich nicht, nur den Titel.
    Liebe Grüße von Kerstin.

    • Astrid Berg sagt

      Ich glaube, ich hätte mir unendliche Sorgen gemacht, aber damals waren auch andere Zeiten. Irgendwie auch sicherer.
      Ich kann mich an den Inhalt des Films nicht mehr erinnern, aber an den Titel. Als Kind habe ich diesen Film hundertprozentig gesehen, denn solche Heimatfilme waren ziemlich in.
      LG und einen schönen Abend
      Astrid

  4. Hallo liebe Astrid,
    hach das war wieder so eine schöne Geschichte… ja so sind die Kinder… so unbekümmert.
    In meiner Kindheit mussten wir auch alles vorher abklären, bevor wir irgendwo hinfuhren.
    Heute hat ja fast jedes Kind ein Handy und what’s up, da wird dann mal schnell angerufen oder geschrieben.

    Liebe Grüße
    Biggi

    • Astrid Berg sagt

      Hallo liebe Biggi,
      damals war einerseits alles irgendwie unkomplizierter, da schickt man eben mal den Postboten vorbei… Heutzutage wäre das undenkbar, aber dafür gibt es heute Handys und jeder hat ein Telefon. So hat wohl jede Zeit ihre Vor- und Nachteile.
      LG
      Astrid

  5. Liebe Astri,
    eine ganz wunderschöne Geschichte. Ich habe sie gern gelesen und
    viele andere auch. ich habe mir heute die Zeit genommen, nur nach-
    zulesen. jetzt bin ich in etwa auf dem Laufenden. Ich hoffe, dass es
    ab jetzt aufwärts geht.
    Einen schönen Abend wünscht Dir
    Irmi

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Irmi,
      Ich freue mich ganz besonders über Deinen lieben Kommentar. Ich wünsche Dir sehr, dass es wieder aufwärts geht. Der Frühling kommt und alles wird besser!!!
      Diese Geschichte ist deshalb so schön,weil nur das Leben selbst solche Geschichten schreiben kann. Leider haben meine damalige Freundin und ich uns aus den Augen verloren,aber wer weiß…
      Sei herzlich gegrüßt !
      Astrid

  6. Liebe Astrid,
    eine schöne Story.
    Wie Kinder so unbekümmert sein können…
    Erstaunlich, dass ihr sofort beste Freundinnen wart und geblieben seid.
    Super geschrieben.
    Liebe Grüße Bärbel

    • Astrid Berg sagt

      Ja, liebe Bärbel, bei Kindern ist immer alles unkompliziert. Manchmal sind es tatsächlich die Erwachsenen, die die Welt verkomplizieren.
      Leider haben wir uns später aus den Augen verloren. Aber wer weiß, was die Zukunft noch bringt…
      LG
      Astrid

  7. Der letzte Satz war doch wirklich eine echte ‚Liebeserklärung‘, liebe Astrid! — Gerade heute Mittag saß ein drittes Kind mit uns am Tisch. Unsere Große hatte eine Freundin mitgebracht. Nur läuft es heute anders als damals, als wir Kinder waren. Da werden schnell ein paar Nachrichten hin und her geschickt und schon ist die Sache geritzt! Wiiieee groß ist der Unterschied in dieser Beziehung – allerdings nicht in der einer echten Freundschaft. Da ist alles noch genau so, wie früher – und das ist schön! LG Martina

    • Astrid Berg sagt

      Ja, heute hätte man das Problem sehr schnell gelöst. Das Handy gezückt und schon ist alles geklärt. Allerdings vor nahezu 50 Jahren, hatten wir kein Telefon und auch meine Mutter hatte weder Führerschein noch Auto. Also was hätten wir anderes tun sollen, als nach dem Mittagessen meine Freundin nach Hause zu bringen. Aber das hat sich ja dann erübrigt, da der Postbote mit dem Postauto plötzlich vor der Tür stand. Das ist auch etwas, das heutzutage undenkbar ist.
      LG
      Astrid

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