Kurzgeschichten
Kommentare 6

Der lange Weg nach Hause

Zu Hause ist da, wo meine Familie ist. Dort wo die Menschen leben, die ich liebe und die mich lieben. Nach Hause gehe ich gerne, denn dort fühle ich mich wohl und ich bin in der glücklichen Lage sagen zu dürfen, dass dies auch für meinen Mann und unseren Sohn zutrifft. Diese Heimkehr ist manchmal kürzer und manchmal länger, je nachdem wo man gerade war. Aber manchmal kann der Weg auch lang sein, wenn er eigentlich kurz ist. Und wir wären nicht Peter und Astrid, wenn wir nicht auch hierzu schon etwas erlebt hätten:

Es war an einem schönen Sommertag, ich weiß sogar noch welcher Wochentag es war. Samstag. Wieso ich mich noch daran so genau erinnern kann, wird man jetzt fragen, wenn ich nicht einmal mehr den Monat oder das Jahr nennen kann. Das lässt sich ganz logisch erklären und hängt mit meinem damaligen Anlass für das Verlassen unserer Wohnung zusammen. Ich unterrichtete zu dieser Zeit an einer Grundschule in Darmstadt, allerdings befand sich diese nicht im selben Ortsteil wie unsere Wohnung. Beides lag ca. 6 Kilometer auseinander. Das ist ja keine Entfernung wird man denken. Stimmt, – aber irgendwie auch nicht.
„Ich gehe heute zur Vorabendmesse“, erklärte ich Peter, der gerade einige Renovierungsarbeiten in unserer Wohnung vornahm. Die Kirche, die ich besuchen wollte, befand sich im gleichen Ortsteil wie die Schule.
„Ich fahre dich hin, aber ich  muss gleich wieder zurück, weil ich hier alles noch fertig machen will!“, bot er mir an.
„Gut, aber dann musst du mich auch wieder abholen“, erklärte ich ihm.
Peter fuhr mich also hin und wir verabredeten, dass er in einer Dreiviertelstunde zur Abholung meiner Person wieder da sein würde.
„Sei aber bitte pünktlich!“, sagte ich ihm. „Denn ich möchte ungern hier herum stehen und auf dich warten müssen.“
„Kein Problem!“, versprach er mir hoch und heilig.
„Aber nicht vergessen!“, sagte ich noch als ich die Autotür schloss.
Peter winkte mir zu und fuhr mit dem Auto wieder nach Hause.
In den nächsten 45 Minuten machte ich mir keinerlei Gedanken, allerdings hinterher umso mehr. Wer nämlich nicht da war, das war mein Peter.
„Naja, dann muss ich doch noch etwas warten. Er wird schon in fünf Minuten hier sein“, dachte ich mir.
Fünf Minuten vergingen, – zehn Minuten verstrichen, – eine Viertelstunde war inzwischen vorbei. Kein Peter war in Sicht. Damals war das Zeitalter des Handys noch nicht angebrochen, das heißt man hatte keine Möglichkeit mal eben schnell miteinander zu kommunizieren und sich kurzzuschließen. Mein Portemonnaie lag zu Hause, denn ich hatte mir lediglich ein wenig Kleingeld für den Klingelbeutel in die Hosentasche gesteckt. Damit konnte ich auch nicht von einer der damals noch existierenden Telefonzellen aus anrufen. Und die Schüler, die mir ein schönes Wochenende wünschten, wollte ich nicht anpumpen, wie man sich vorstellen kann. Irgendwann war die Straße wie leergefegt, nur ich stand noch herum und wartete auf meinen Peter. Langsam begann ich mich zu ärgern. Und mit dem Ärger setzte auch das Überlegen ein, was ich jetzt tun sollte, denn ich wollte ja schließlich nach Hause. Auf die Idee mit einem Taxi heimzufahren, meine Geldbörse aus der Wohnung zu holen, um den Taxifahrer zu bezahlen, kam ich nicht. Allerdings kam ich auf eine andere Idee, nur leider auf keine gute. Ich dachte mir nämlich, dass ich meinem Peter ja entgegen laufen könnte. Dabei gab es jedoch ein Problem: Viele Wege führen nach Rom und so gab es auch hier verschiedene Möglichkeiten. Keine Ahnung, warum ich mich für den von mir gewählten Weg entschied, möglicherweise weil er eine Abkürzung war, zumindest für Fußgänger.
Ich lief los, immer die Augen auf alle vorbei fahrenden Autos gerichtet, so dass ich meinen Peter auch nicht verpassen könnte. Meine Verärgerung wuchs von Minute zu Minute. Zu allem Unglück hatte ich nicht gerade Wanderschuhe an, sondern neue Sandalen mit hohen Absätzen. Es dauerte also nicht sehr lange und meine Füße begannen zu schmerzen, was wiederum nicht meine Laune hob.
„Das ist eine ganz schöne Gemeinheit! Der hat mich einfach vergessen!“, ärgerte ich mich im Stillen, wobei im Grunde genommen diese innere Stimme alles andere als leise war. Genau in diesem Moment, weit entfernt von den letzten und den nächsten Häusern, brauste ein Mofafahrer an mir vorbei. Besser gesagt er brauste bis zu mir heran, verlangsamte seine Fahrt auf Schrittgeschwindigkeit und fragte mitleidig:
„Kann ich dich ein Stück mitnehmen?“
Obwohl ich den Fahrer nicht kannte, willigte ich ein und setzte mich auf den Gepäckträger. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Zu meinem Leidwesen fuhr er jedoch nicht bis zu meinem Wohnort, aber immerhin hatte ich inzwischen mehr als die Hälfte des Weges bewältigt. Und ich würde den Rest auch noch schaffen.
Meine Verärgerung hatte sich inzwischen in Sorge um meinen Peter verwandelt, denn ich begann mir auszumalen, dass ihm etwas zugestoßen sei. Entweder er hatte einen Unfall mit dem Auto oder es war bei den Renovierungsarbeiten etwas passiert. So stellte ich mir bildlich vor, er sei von der Leiter gefallen oder er habe beim Anschließen der neuen Deckenlampe einen Stromschlag bekommen oder sogar beides.
Mit nackten und blutigen Füßen, die Sandalen in der Hand kam ich völlig aufgelöst an. Ich schloss die Haustüre auf und schlich mit letzter Kraft die Treppe hoch. Auf den letzten Stufen vor unserer Wohnungstür traf ich auf einen Bekannten von uns, der gerade mit einer Straßenkarte in der Hand auf dem Weg treppab war.
„Gott sei Dank“, stieß er erleichtert aus. „Da bist du ja! Wir suchen dich schon die ganze Zeit!“
Jetzt stand auch Peter plötzlich vor mir. „Wo warst du denn?“, fragte er mich zwischen Verärgerung und Erleichterung schwankend.
„Das frag ich dich! Ich hab schon befürchtet es ist was passiert!“, gab ich zurück.
„Was denkst du denn, welche Befürchtungen wir hatten“, meinte Peter und warf einen Blick zuerst auf meine Schuhe und dann auf meine Füße.
„Bist du etwa gelaufen?“
„Was soll ich denn machen, wenn du nicht kommst, weil du mich einfach vergessen hast!“
„Ich habe dich nicht vergessen, das war nämlich so: …“
Und dann erzählte mir Peter seine Version der Geschichte:

Peter hatte zunächst fleißig weiter gearbeitet, aber dann klingelte es plötzlich an der Haustür und der besagte Bekannte stand vor ihm. Er hatte eine freudige Nachricht zu verkünden, denn er kam gerade aus dem Krankenhaus, wo seine Frau eine gesunde Tochter entbunden hatte. Darauf musste man natürlich anstoßen und so öffneten sie jeder eine Flasche Bier, weil wir keinen Sekt zu Hause hatten. Darüber vergaß Peter die Zeit und als er auf seine Uhr schaute, war er eine Viertelstunde über den vereinbarten Zeitpunkt hinaus. Er sprang in sein Auto und fuhr auf der für Autos schnellsten Strecke (die aber für mich zu Fuß der längere Weg gewesen wäre) zur Kirche im Nachbarort, um festzustellen, dass ich nicht da war. Zunächst war er nur etwas verwundert gewesen, denn weder Unpünktlichkeit noch Unzuverlässigkeit war er von mir gewohnt. Also fragte er im Pfarrhaus nach, aber da der dortige Pfarrer an diesem Tag vertreten wurde, kannte diese Vertretung mich nicht und wusste auch nichts von meinem Verbleib. Allerdings meinte dieser sofort:
„Oh Gott!“
Beide Männer, mein Peter und der Vertretungspfarrer, waren sichtlich beunruhigt, da es inzwischen schon zu dämmern begann. Kurzentschlossen schnappte sich der Geistliche eine Taschenlampe und dann starteten sie die Suche nach mir. Keine Ahnung, was sie sich ausmalten, auf jeden Fall durchsuchten er und Peter jedes Gebüsch im Umkreis der Kirche, allerdings ohne Erfolg.
Peter fuhr völlig nervös wieder nach Hause und alarmierte den Bekannten, der sofort eine Straßenkarte für die weitere Suchaktion organisierte.

Alles Weitere meiner Odyssee ist bekannt und somit haben sich zwei Sprichwörter bewahrheitet:

Ende gut, – alles gut!

Trautes Heim – Glück allein!

6 Kommentare

  1. Liebe Astrid,
    das ist wirklich eine schöne Geschichte. Sie erinnert mich an eine Begebenheit, bei der ich bedauerte, NICHT aneinander vorbeigelaufen zu sein. Damals war ich 15 und mit meiner Schulklasse abends in Magdeburg im Theater. Da die Vorstellung spät aus war, hätten meine Eltern mich gern vom Zug abgeholt, wussten aber nicht genau, mit welchem ich zurück kommen würde. Es gab für mich zwei mögliche Endbahnhöfe: Den in Salzelmen mit Weg duch die Parkanlagen, und den in Schönebeck, wo der wesentlich längere Heimweg durch die beleuchtete Stadt führte. Meine Eltern schärften mir ein, auf jeden Fall den langen, sicheren Weg zu wählen. Ich dachte nicht daran! Leider hatte ich nicht bedacht, dass die beiden Wege an einer Stelle aufeinander trafen. Und genau da standen meine besorgten Eltern, während ich wie ein einsames Gespenst aus dem stockdunklen Park auftauchte. Es gab ein ziemliches Donnerwetter, und ich war mit meinen 15 Jahren ob dieser Kontrolle auch noch beleidigt. Heute sehe ich das natürlich völlig anders. Wie schön ist es doch, eine Familie zu haben, in der sich jeder um den anderen sorgt.

    Liebe Grüße und einen schönen Abend
    Fiona

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Fiona,
      ich freue mich jedes Mal, wenn sich meine Leser in meinen wahren Geschichten wiederfinden. Dann werden einfach Erinnerungen wach.
      Ich glaube mit 15 wäre ich auch sauer gewesen. Naja, in diesem Alter sieht man die Welt noch etwas anders.
      LG
      Astrid

    • Astrid Berg sagt

      Hallo Lore,
      ich danke dir recht herzlich für die beiden lieben Kommentare. Ich freue mich, dass es dir auf meinem Blog gefällt und du mich öfter hier besuchen willst.
      Bis bald bei unseren gegenseitigen Blogbesuchen, denn auch dein Blog gefällt mir gut.
      Liebe Grüße
      Astrid

  2. Liebe Astrid, sei herzlich gegrüßt.
    So ein „aneinander vorbeilaufen“ hatte ich auch erlebt, als ich mit der Klasse von der Busfahrt zurück kam. Verabredet war, daß der Bus wieder vor der Schule hält und somit sind meine Eltern zur Schule und warteten im Klassenraum auf die Ankunft.
    Wir kamen und ich blieb vor der Schule und wartete auf meine Eltern. Alle anderen Schüler liefen nach Hause.
    Als die Eltern nach 1/2 Std nicht erschienen, lief ich auch nach Hause, aber dort war ja keiner, also wieder zurück zur Schule. In der Zwischenzeit standen meine Eltern draußen mit dem Busfahrer im Gespräch und als ich sie dann traf, waren wir Drei natürlich erstaunt, warum wir uns nicht gesehen hatten…

    Ich wünsche Dir noch einen guten Tag, tschüssi Brigitte

    • Astrid Berg sagt

      Hallo Brigitte,
      na, da hatte wohl auch jeder Angst um den anderen. Solche Erlebnisse vergisst man nicht, die prägen sich ein.
      LG und einen schönen Tag
      Astrid

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert