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Im Schatten der Krone

Ich stehe hier in einem wunderschönen Park am Rande einer Wiese. Das war nicht immer so. Als ich noch klein war und ein zartes Pflänzchen, da standen viele meiner Verwandten neben mir und um mich herum. Irgendwann einmal kamen Männer mit Äxten und Sägen und sie fällten fast alle von meinen Freunden. 

„Wir müssen hier ein wenig aufräumen und Platz schaffen“, hörte ich sie sagen. „Es wird ein wunderschöner Park werden, der den Menschen Erholung bieten soll.“
Ich hatte große Angst, denn sie rückten mit ihren Geräten immer näher an mich heran. Schon bald würden sie mich erreichen und auch mein Leben wäre ausgehaucht. Ich wäre einfach Brennholz geworden.
Das ist nun schon sehr viele Jahrzehnte her. Ich hatte damals Glück, denn sie ließen mich als einen der wenigen Bäume stehen. Ich durfte weiter wachsen und groß werden. Und das bin ich tatsächlich in den fast neunzig Jahren geworden: Groß und mächtig.
Jetzt bin ich schon alt und denke an mein Leben zurück. Viel habe ich gesehen und viel habe ich erlebt. Menschen gingen an mir vorüber oder hielten sich im Schatten meiner Krone auf. Manche suchten Zuflucht oder wollten sich nur ein Weilchen an meinem kräftigen Stamm anlehnen. Gar mancher Hund befeuchtete die Erde direkt über meinen Wurzeln, Vögel bauten Nester in meiner Krone und zwitscherten fröhliche Lieder. Katzen und Eichhörnchen kletterten von Ast zu Ast.
Eine alte Frau, sie dürfte jedoch einige Jährchen jünger sein als ich, kam die vergangenen Jahre regelmäßig vorbei und setzte sich auf die Bank, die genau mir gegenüber steht. Immer wieder blickte sie zu mir herüber. Ich erkannte in ihr das junge Mädchen, das in einem Sommer zu Beginn der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts im zarten Alter von 17 Jahren unter meiner belaubten Krone ihren ersten Kuss erlebte. Sie und der junge Mann kamen immer wieder zu einem keinen Stelldichein hierher. Sie war seine große Liebe und auch ihr Herz schlug nur für ihn. Sie ritzten zur Besiegelung ihrer Liebe ein Herz mit ihren Initialen in meinen Stamm. Ein H für Hanna und ein zweites H für Horst. Sie bedachten in ihrer Verliebtheit nicht, dass sie mir damit weh taten, als sie mit dem Taschenmesser an einer Stelle meine Rinde verletzten.  Wäre diese Verletzung noch größer und tiefer gewesen, wäre ich vermutlich daran zugrunde gegangen. Aber ich aktivierte alle meine Kräfte und hielt es den Beiden zuliebe aus. Die Wunde vernarbte, aber meine Rinde war und blieb an dieser Stelle der Verletzung geschädigt. Bis heute trage ich dieses vernarbte Herz an meinem Stamm. Es gehört nun auch zu meinem Leben und ich bin den beiden Verliebten nicht böse.
Eines Tages kam das junge Pärchen nicht allein, sondern mit ihren Familien. Sie versammelten sich um meinen Stamm herum und ein Fotograf machte Hochzeitsfotos. Danach wurden ihre Besuche seltener, aber schon nach einem Jahr kamen sie mit einem Kinderwagen und schoben ihn in meinen Schatten.
Ich sah, wie das kleine Baby zu einem kleinen Mädchen heranwuchs und zwei Jahre später gesellte sich noch ein Brüderchen dazu.
Ich vernahm ihre kleinen trippelnden Schrittchen, wenn sie um meinen Stamm liefen. Ich hörte ihre zarten Stimmchen, wenn sie ihre Kinderlieder sangen oder ihr fröhliches Lachen erklang.
In den langen Jahren, die ich hier nun schon stehe, hielten sich auch viele andere Kinder in meiner Nähe auf. Im Frühling kamen sie, um die ersten Blätter an meinen Zweigen zu bestaunen, im Sommer, um die Blumen rings um mich herum auf der Wiese zu pflücken, im Herbst, um meine bunten Blätter aufzusammeln und im Winter, um Schneemänner zu meiner Gesellschaft zu bauen.
Manchmal entriss der Wind einem Kind einen Luftballon oder einen Drachen und trieb ihn durch die Lüfte. Ich fing ihn dann auf und hielt ihn so lange fest, bis jemand kam und ihn sich abholte oder ein heftiger Windstoß ihn weiter trieb.
Jungs haben bei mir das Klettern gelernt und gar manche junge Frau hat am Fuße meines Stammes gesessen, sich in Liebesromane vertieft oder gar aus eigenem Liebeskummer manche Träne bei mir vergossen.
Im Großen und Ganzen war mein Leben angenehm und schön, aber es waren auch harte Zeiten dabei. Daran denke ich nicht so gerne, aber sie gehören ebenso zu meinem Leben. Es hat tüchtig geschneit und geregnet. Ich habe gefroren und fürchtete sogar schon in einem besonders langen und kalten Winter, dass ich erfrieren würde. Ich habe gezittert und versucht meine Lebenssäfte weiter fließen zu lassen, damit ich auch im darauffolgenden Frühjahr wieder ergrünen konnte. Ich habe gelitten, aber ich habe überlebt. Allerdings musste ich mich erst erholen und brauchte ein bisschen mehr Zeit, um endlich alle meine Zweige wieder mit grünen Blättern schmücken zu können.
Mancher Sommer war so furchtbar heiß und es gab kaum Regen, dass man hätte verdursten können. Zum Glück war ich schon groß und meine Wurzeln schon so lang, dass sie tief unten aus der Erde noch Wasser holen konnten, um mich zu versorgen.
Überschwemmungen und Unwetter habe ich auch erlebt. Blitze zuckten am Himmel und Donner grollten. Doch der Himmel war mir gnädig, kein Blitz hat mich je getroffen.
Einmal sogar gab es ein leichtes Erdbeben. Die Erde hat gewackelt, aber meine Wurzeln haben mir auch hier geholfen und mich ebenso wie bei Stürmen festgehalten. Nur der letzte Sturm hat mir heftig zugesetzt. Ja, ich muss gestehen mit dem Alter wird man auch schon ein wenig morsch und da macht einem so ein heftiger Sturm schon mehr aus als in jungen Jahren. So haben meine Zweige nicht nur gewackelt, sondern es hat in meinem Geäst richtig tüchtig gekracht. Man sieht es mir an, wie sehr es mich mitgenommen hat. Einstmals richtig kräftige Zweige und Äste hat der Sturm mir abgerissen und umgeknickt. Ich habe große Wunden erlitten. Inzwischen habe ich es verschmerzt. Ich bin nicht mehr so hübsch wie früher, aber ich stehe noch und bin noch fest verwurzelt. Wenn alles gut geht, werde ich auch im nächsten Frühjahr wieder grüne Blätter tragen.
Besonders gefreut habe ich mich, als nach dem großen Sturm und den anschließenden Aufräumarbeiten neulich Besuch für mich kam. Die alte Dame hat nach mir geschaut und sich gefreut, dass ich noch stehe. Sie war vollkommen in Schwarz gehüllt und ihre Augen wirkten verweint. Ihr Mann war verstorben.  Doch sie hatte trotzdem jemand mitgebracht, nämlich ihre erwachsene Enkeltochter und ihr Urenkelchen, das im Kinderwagen schlief. Die alte Dame hat sanft über die vernarbte Stelle an meinem Stamm gestreichelt, an der einst das eingeritzte Herz mit den Initialen zu sehen war.
„Schaut her“, hat sie die anderen aufgefordert. „Hier haben Opa und ich ein Herz eingeritzt. Ein bisschen kann man es heute noch erkennen. Der Baum hat das vernarbte Herz all die Jahre für uns bewahrt, obwohl wir ihm damals sicherlich sehr wehgetan haben.“
Schweigsam und gedankenverloren erinnerte sie sich an die vielen gemeinsamen und schönen Stunden mit ihrem Mann, die sie im Schatten meiner Krone erleben durften.

 

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20 Kommentare

    • Astrid Berg sagt

      Ich freue mich, dass Du Dir die Mühe gemacht hast und die Geschichte rausgesucht hast. Noch mehr freue ich mich, dass sie Dir auch gefallen hat.
      Ich wünsche Dir einen angenehmen Donnerstag
      Astrid

  1. Ganz wunderbar hast du diese Gedanken in Worte gefasst, liebe Astrid. Ich denke, jeder Baum könnte uns unendlich viel erzählen. Doch wir können unsere Fantasie auch spielen lassen, wenn wir Bäume und ihren Standort betrachten. Mein Kopfkino springt dann meist auch gleich an 🙂 .

    Liebe Grüße zur Wochenmitte,
    Anna-Lena

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Anna-Lena,
      ja Bäume werden schon recht alt und haben viel erlebt. Menschen gehen an ihnen vorüber, deren Schicksal keiner kennt, Stürme ziehen auf, ebenso wie Gewitter, Sonne und Schatten umspielen ihn, Natur und Jahreszeiten gehen ihren Gang und beziehen ihn in das Leben mit ein. Ein Kommen und Gehen, ein Wachsen, Gedeihen und Vergehen. Leben und Sterben. Man könnte philosophisch werden, wenn man seinen Gedanken freien Lauf lässt.
      LG
      Astrid

  2. Jetzt habe ich wirklich feuchte Augen bekommen liebe Astrid. Du kannst so einfühlsam schreiben, dass man mitfühlt, mitdenkt, sich mit freut und traurig ist.
    Und wenn ich das nächste Mal einen bekritzelten Baum sehe, werde ich an diese Geschichte denken.
    Liebe Abendgrüße von Kerstin.

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Kerstin,
      ich werde ja richtig rot bei diesem großen Lob :-). Ich danke Dir und freue mich!
      Man macht sich keine Gedanken, dass man einem Baum schaden könnte, wenn man in seine Rinde ritzt, aber tatsächlich gibt es immer wieder Aufrufe diese alte Tradition zu unterlassen.
      LG und einen schönen Sonntagabend
      Astrid

    • Astrid Berg sagt

      Dann habe ich ja mein Ziel erreicht, denn genau das wollte ich mit dieser Geschichte. Euch Lesefreude bereiten.
      LG
      Astrid

  3. Martina sagt

    Ich bin ganz versunken in die Erinnerungsgeschichte des alten Baumes – wie er sich an die Verletzung erinnerte fand ich besonders bewegend. Danke für die einfühlsame und einfach wunderbare Geschichte! LG Martina

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Martina,
      ich danke Dir für Deine Besuche und lieben Kommentare.
      Ich dachte mir, dass ein Baum, der so alt ist, bestimmt schon viel erlebt hat. Da er es selbst schwerlich mitteilen kann, habe ich versucht es anstelle des Baumes zu tun. Eure Kommentare zeigen mir, dass es mir dies anscheinend gelungen ist.
      LG und einen schönen Sonntagabend
      Astrid

  4. Liebe Astrid, was für eine zu Herzen gehende Geschichte des Baumes.
    Bäume können sehr alt werden.
    Was sie alles erleben und erlebten, können wir leider nicht von ihm hören.
    Aber wir können uns unseren Teil denken.
    Danke für diese wunderschöne Story
    deine Bärbel

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Bärbel,
      auch Dir sei gedankt für Dein fleißiges Lesen und Kommentieren auf meiner Seite.
      Wenn der Baum wüsste, welche Aufmerksamkeit er bekommen hat, so würde er sicherlich im nächsten Frühjahr ganz besonders prächtig seine grünen Blätter sprießen lassen 😉
      LG
      Astrid

    • Astrid Berg sagt

      Auch ich grüße Dich zum beginnenden Wochenende und danke Dir für Deine regelmäßigen Besuche und Kommentare.
      Astrid

  5. Was für eine schöne Geschichte, neunzig Jahre im Leben eines Baumes, wieviel er doch erlebt hat und dann diese rührende Herzensgeschichte, die vernarbte Wunde und dann der Dank der alten Frau am Ende. Einfach nur schöööön!!!!
    Ich wünsche dir einen gemütlichen Tag, LGLore

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Lore,
      hab lieben Dank für Deine fleißigen Besuche auf meiner Seite und Deine sehr liebevoll gestalteten Kommentare.
      Ich habe den Baum gesehen und ihn fotografiert, da er mich sofort irgendwie berührte. Man sah ihm an, dass der letzte große Sturm großen Schaden angerichtet hat. Er hat mich einfach inspiriert und die Geschichte hat sich dann auch irgendwie fast von selbst geschrieben.
      LG
      Astrid

  6. Liebe Astrid, dein Erlebnis als Baum, hat mir sehr gut gefallen. Könnten Bäume sprechen, so würden sie deine Worte benutzen. Wenn ich unter oder bei einem Baum sitze, stelle ich mir auch immer die Frage. „Was hast du lieber Baum, wohl in deinem Leben gesehen und erlebt.“ Ich glaube, deine Antworten würden kommen. Vielen Dank.
    Deine Geschichte bringt mir einen guten Tag, egal ob es regnet oder schneit.
    Herzliche Grüße, Margot.

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Margot,
      ich freue ich, dass ich Dir mit meiner Geschichte einen guten Tag schenken konnte.
      Bäume können so alt werden, dass sie sogar zum Teil mehrere Menschenleben überdauern. Sie könnten tatsächlich viele Geschichten erzählen und es wäre sicherlich auch sehr interessant ihnen „zuzuhören“.
      Herzliche Grüße
      Astrid

  7. Liebe Astrid,
    schön, wie sich der Baum erinnert und wie sich der Kreis am Ende schließt. Ich habe die Geschichte so gerne gelesen, ein schöner Auftakt in meinen Tag!
    Herzliche Grüße
    Regina

    • Astrid Berg sagt

      Ich denke Bäume können tatsächlich Einiges erzählen. Zwar nicht über Worte, aber ihr Aussehen verrät Vieles, z. B. das Alter, Beschädigungen durch Naturgewalten, über Schädlinge etc.
      LG und danke fürs Lesen und Kommentieren.
      Astrid

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