Wo und wann ich geboren bin, weiß ich nicht. Man hat mir allerdings erzählt, dass ich aus dem ehemaligen Sudetenland stamme. Manchmal tauchen in meinem Kopf und in meinen Träumen Bilder auf, die ich allerdings nicht wirklich zuordnen kann. Ich schiebe sie weg, denn ich will mich nicht damit belasten.
Meine ersten wirklichen Erinnerungen reichen nur ungefähr bis zu meinem zehnten Lebensjahr zurück (ich kann mein Alter ja eigentlich nur schätzen). Damals fand ich auf der Straße eine alte Flöte. Ich hob sie auf und probierte ihr Töne zu entlocken.
Sie funktionierte und meine Finger wanderten wie von selbst über die Löcher und entlockten dem Musikinstrument die schönsten Töne, die sich zu wunderbaren Liedern aneinanderreihten. Es war, als hätte ich nie etwas anderes getan als Flöte zu spielen.
Vorbeieilende Menschen, deren trauriger Blick nach unten gesenkt war, hoben die Köpfe, blieben stehen und ich sah, wie ein kurzes Lächeln ihr Gesicht erhellte. Mein Spiel schien ihnen für einen Moment ein bisschen Freude zurückzubringen und das bereitete auch mir ein Glücksgefühl. Manche kamen nach einer Weile zurück und brachten mir einen Becher warmes Wasser oder ein kleines Stückchen Brot.
Doch ich konnte nie lange an einem Ort verweilen, denn in diesen Zeiten war man nirgends sicher. Doch dann entdeckte ich einen Platz, der für mich lange Zeit ein Stückchen Heimat und damit verbunden auch Sicherheit war. Ich fand ein abgelegenes altes Bauernhaus und eine verfallene Scheune, in der tatsächlich noch ein paar Hühner waren. Ich fragte mich, ob dort noch Menschen lebten. Allerdings zog ich es vor, mich etwas abseits auf einen alten umherstehenden hölzernen Handwagen zu setzen und mich meinem Flötenspiel zu widmen. Dieser Wagen diente mir nicht nur als Sitzgelegenheit, sondern auch als Bett.
Die Tage und die Nächte wurden langsam kühler. Der Sommer war vorbei. Noch reichte meine alte Jacke aus, um mich zu wärmen. Doch ich sorgte mich, wie ich den herannahenden Winter überstehen sollte.
Dort in der Nähe des alten Bauernhauses erlebte ich seltsame Dinge und fühlte mich gleichzeitig wie im Märchen. Wenn meine Finger vom Flötenspiel müde wurden und der Schlaf mich übermannte, sank ich auf mein Lager nieder. Seltsamerweise fror ich in keiner der Nächte. Sollte die gute Fee aus einem der alten Märchen mir eine wärmende Decke übergelegt haben? Jeden Morgen wenn ich erwachte, war ich gut zugedeckt und neben mir lagen Brot und ein gekochtes Ei. Ich fragte mich, ob ich schlief und träumte oder wach war.
Abends, wenn ich von meinem Streifzug zurückkam, war der hölzerne Wagen leer, – weder Decke noch Nahrung waren irgendwo zu sehen. Ich beschloss eines Nachts wach zu bleiben, was gar nicht so einfach war. Erst nach mehrmaligen Versuchen gelang es mir und ich sah sie:
Eine alte Frau kam aus der Tür des Bauernhauses zu mir herübergeschlichen. Sie deckte mich vorsichtig mit einer Decke zu, strich mir zärtlich über den Kopf und stellte einen Teller mit Brot und Ei neben mich. Ich öffnete Augen und Mund und wollte etwas sagen, doch sie legte ihren Zeigefinger über meinen Mund und signalisierte mir zu schweigen. Nochmals streichelte sie mir über den Kopf und verschwand in der Dunkelheit. Kurz danach hörte ich das leise Zuklappen der Haustür des Bauernhauses.
So ging es nun Nacht für Nacht. Inzwischen war der Winter vorbei und der Frühling kam ins Land.
Doch eines Nachts kam sie nicht mehr und in den folgenden Nächten auch nicht. Nie mehr …
Inzwischen, so sagt man, bin ich schon fast hundert Jahre alt. Auf dem hölzernen Wagen sitze ich noch immer, aber ich befinde mich nicht mehr in der Nähe des alten Bauernhauses. Ich bin nun in einem Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts in einer ostdeutschen Stadt. Ein Ehepaar besucht seit einigen Jahren des öfteren diese Stadt und kommt dann regelmäßig an dem Geschäft vorbei. Immer wieder stehen sie vor dem Schaufenster und werfen mir liebevolle Blicke zu. Ich mag sie und freue mich jedes Mal sie zu sehen. Ob sie mich eines Tages mitnehmen? Wer weiß?
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