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Danke lieber Schutzengel

Jakob ist sehr gerne bei seinen Großeltern. In den Ferien oder an manchen Wochenenden darf er auch bei Oma und Opa schlafen. Darauf freut sich Jakob immer ganz besonders. Über Jakobs Bett bei den Großeltern hängt ein schönes altes Bild, ein Schutzengelbild.
Eines abends fragt Jakob: “Omi, wie alt ist dieses Bild? Und was ist eigentlich ein Schutzengel?”
“Naja, dieses Bild ist sicher schon bald hundert Jahre alt. Es war schon über meinem Bett, als ich so alt war wie du. Es ist für mich sehr wertvoll.
Und nun zu deiner nächsten Frage: Was ist ein Schutzengel?
Schutzengel sind Helfer, Boten Gottes. Jeder Mensch hat einen Schutzengel. Man kann sie nicht sehen, aber manchmal spürt man, dass sie uns beschützt haben. Und manchmal wird auch einer unserer Mitmenschen zu unserem Schutzengel.“
“Letzten Urlaub hatte ich auch einen Schutzengel“, sagt jetzt Jakob ganz ernst. Mama, Papa und ich waren im Meer schwimmen, dort wo es ganz tief ist. Plötzlich habe ich im Fuß einen Krampf bekommen und konnte nicht mehr schwimmen. Ich habe ganz laut nach Mama gerufen. Sie ist schnell zu mir geschwommen, hat mich gepackt und hat mich über Wasser gehalten, bis wir den Strand erreicht haben.”
“Da war deine Mama dein Schutzengel!”, sagt Oma. “Ja, manchmal können auch Menschen füreinander Schutzengel sein.” …
So sollte eigentlich meine Geschichte über Schutzengel beginnen, doch dann passierte etwas, das es nicht zulässt eine erfundene Geschichte zu schreiben:
Ich begleitete meinen Mann nach Magdeburg zu einer Tagung. Selbstverständlich wollte ich diese Stadt näher kennenlernen.
„Ich werde mit einem Doppeldeckerbus heute eine Stadtrundfahrt machen“, verkündete ich meinem Peter am Morgen.
„Prima“, meinte er, „dann treffen wir uns nach meiner Tagung im Hotel und gehen anschließend gemeinsam zu der geplanten Abendveranstaltung.“
Also machte ich mich auf den Weg und saß zwei Stunden später in dem besagten Doppeldecker, lauschte den Ausführungen und Erklärungen des überaus kompetenten Reiseführers und bestaunte die Sehenswürdigkeiten.
„Wenn Sie jetzt bitte ihren Blick nach links wenden, dann sehen sie dort am Rande der Grünanlage eine Mädchenfigur aus Bronze.“
Tatsächlich, ich sah sie und in der Hand hielt das Mädchen einen Tulpenstrauß. Kaum hatte ich die Figur ausfindig gemacht, wurden wir aufgefordert zur rechten Straßenseite zu blicken. Dort stand ein mehrstöckiges Gebäude. Das, was der Reiseführer dann erzählte, hörte sich an wie eine erfundene Geschichte, fast wie ein Märchen. Diese Begebenheit, die uns hier geschildert wurde, ereignete sich am 13. März 1969 in dem Haus auf der, dem Denkmal gegenüberliegenden Straßenseite.
Ich weiß nicht mehr, ob es mehr als drei oder vier Sätze waren, in denen der Reiseführer uns die Geschehnisse dieses besagten Tages schilderte, um dann zur nächsten Sehenswürdigkeit überzugehen. Diese Sätze berührten mich allerdings derartig, dass ich am Abend meinem Mann davon erzählte und ihn bat:
„Lass uns bitte morgen unbedingt dort noch einmal hinfahren. Ich möchte mir diese Bronzefigur genauer anschauen.“
So standen wir dann auch heute Nachmittag davor und lasen die Inschrift, um uns dann mit unseren Blicken an die Fenster des fünften Stockwerkes des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu heften.
„Das kann doch gar nicht sein“, sagte ich immer wieder. Das Mädchen muss nicht nur einen Schutzengel gehabt haben. Das grenzt doch fast schon an ein Wunder.“
„Komm, wir gehen einmal rüber!“, forderte mich mein Mann auf.
„An dem Haus ist aber keine Plakette und auch kein Hinweis auf das Geschehen angebracht“, erklärte ich meinem Peter. „Das habe ich gelesen.“
Trotzdem stellten wir uns vor das Haus und fotografierten gerade das Haus von unten nach oben in den Himmel, um die Höhe des Gebäudes in irgendeiner Art und Weise festzuhalten. Immer wieder unterhielten wir uns über das Unfassbare, als plötzlich ein Mann neben uns auftauchte und uns ansprach:
„Möchten Sie von dem Fenster, aus dem die vierjährige Katharina Lehmann herausgefallen ist, ein Foto von der Bronzefigur gegenüber machen?“
Ich schaute den Mann mit großen Augen an. Er erkannte meine Verwunderung und erklärte uns:
„Die Familie Lehmann wohnte bis 2010 noch in der Wohnung. Dann kamen die beiden Eheleute in ein Altersheim in Berlin. Ich wohne seit 2010 in ihrer ehemaligen Wohnung und die Tochter Katharina lebt ebenfalls mit ihrem Mann in Berlin, der übrigens ein ehemaliger Studienkollege von mir war.“
Jetzt kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wir folgten dem freundlichen Herrn in seine Wohnung und riskierten einen Blick aus dem besagten Fenster im fünften Stock in die Tiefe.
„Hat sich das alles tatsächlich so abgespielt, wie man es sich erzählt?“, fragte ich ihn.
„Ja, so habe ich es auch berichtet bekommen: Es war am 13. März 1969. Die kleine Katharina war alleine im Wohnzimmer. Sie öffnete das Fenster und stieg auf die Heizung hier unter dem Fensterbrett. Aus irgendeinem Grund verlor sie ihren Schuh, der nach draußen fiel. Sie wollte ihn noch vor dem Herunterfallen schnell ergreifen. Dabei passierte das Schreckliche. Katharina verlor das Gleichgewicht und konnte sich gerade noch am Fensterbrett mit ihren kleinen Händchen festhalten. So hing sie außen an der Hauswand.
Der 28jährige sowjetische Major Igor Alexejewitch Belikow kam auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorbei, sah das Mädchen, erkannte die Gefahr und zögerte keinen Moment. Er eilte über die Straße und breitete seinen Mantel wie ein Sprungtuch zwischen seinen beiden Armen aus. Dies geschah gerade noch rechtzeitig, denn Katharina hatte nicht die Kraft sich am Fensterbrett festzuhalten und stürzte in die Tiefe. Der junge sowjetische Major fing in seinem Mantel das herabstürzende Mädchen auf. Der kleinen Katharina ist nichts passiert. Sie hat diesen Sturz aus 22 Metern Höhe unbeschadet überlebt.“
Ich warf noch einmal einen Blick aus dem Fenster und konnte dieses Wunder immer noch nicht fassen.
„Sie muss wohl sehr viele Schutzengel gehabt haben. Und der wichtigste dabei war der Major“, sagte ich.
„Er setzte wohl das kleine Mädchen heil auf dem Bürgersteig ab und wollte weiter gehen, doch man hielt ihn auf“, berichtete uns der nette Herr weiter. „Man erzählte mir, dass er durch die Wucht des Auffangens des kleinen Körpers beide Arme gebrochen hatte. Für seine Heldentat hat man ihn zum Ehrenbürger der Stadt Magdeburg ernannt. Er ist in diesem Frühjahr im Rang eines Oberst verstorben.“
Wir unterhielten uns noch einen Moment mit dem freundlichen Herrn, dann bedankten und verabschiedeten wir uns. Bevor wir in den Aufzug einstiegen, warf ich noch einen Blick den Treppenaufgang hinunter und hier wird mir die extreme Höhe dieses Stockwerkes noch einmal bewusst, aber auch welches Wunder sich hier ereignet hat.
Ich glaube an Schutzengel und dieser Glaube hat sich durch dieses unglaubliche, aber wahre Ereignis vor 46 Jahren nur noch mehr verstärkt. Ich bin froh, dass es diese Schutzengel gibt, egal ob in menschlicher oder göttlicher Erscheinung.

Danke lieber Schutzengel

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Die Inschrift lautet:

Hauptmann der Sowjetarmee Igor Alexejewitch Belikow fing die aus dem V stock fallende 4jährige Katharina Lehmann in seinem Mantel auf.

Geschehen am 13 III 69 W. Pieck Allee 24

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Auf der Rückseite ist der Mantel abgebildet.

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Der Blick auf das Haus verdeutlicht die Fallhöhe von 22 Metern. Es handelt sich um das erste Fenster rechts neben dem vorgebauten Eingangsbereich im 5. Stockwerk (siehe oberstes Fenster innerhalb des Schattens und unterhalb des gelben Bereichs).

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Das Fenster aus dem die Vierjährige fiel.

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Der Blick aus dem Fenster des 5. Stockwerkes verdeutlicht die Höhe.

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Der Blick aus dem Fenster auf das Bronzemädchen und die Gedenktafel

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Auch im Treppenhaus wird die enorme Höhe ersichtlich.

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Zum Schluss noch ein letzter Blick nach oben zu dem Fenster.

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10 Kommentare

  1. Liebe Astrid, meine Güte! Was für eine Geschichte! Der Albtraum für alle Eltern und was für eine große Bewahrung hat da stattgefunden. LG Tanja

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Tanja,
      wenn man von solchen Begebenheit liest oder hört, dann kann man nicht anders, man muss einfach an Schutzengel glauben.
      LG
      Astrid

  2. Martina sagt

    Die schönsten Geschichten schreibt doch immer noch das Leben. Unglaublich!! Niemals hätte man geglaubt, dass ein Kind einen Sturz aus dieser Höhe überlebt. Aber Wunder geschehen immer wieder und wir sollten nicht achtlos an ihnen vorüber gehen. Wie schön, dass der Zufall zu Hilfe kam und dir ermöglicht hat, so realistische Fotos zu machen. Danke!!
    Ein schönes Wochenende! Martina

    • Astrid Berg sagt

      Ja, zum Glück gibt es immer noch Wunder und auch Schutzengel. Es existiert so viel Unglück auf dieser Welt, so dass wir beides dringend nötig haben. „Glück im Unglück“ – dieses Ereignis liefert den besten Beweis für diesen Ausspruch.
      LG und ein schönes Wochenende
      Astrid

  3. Liebe Astrid,
    das ist ja eine wunderbare Geschichte.
    Die kleine Katharina hatte eine Menge Schutzengel, aber DER Schutzengel war der Major, auf alle Fälle.
    Dass seine beiden Arme gebrochen waren, kann ich mir vorstellen.
    Ein Held! – Ein Schutzengel.
    deine Bärbel

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Bärbel,
      ich glaube an Schutzengel und dieses Ereignis hat meinen Glauben an Schutzengel in göttlicher und menschlicher Gestalt nur noch verstärkt.
      Auch wenn jemand nicht von einem Schutzengel in Gestalt des Majors sprechen will, ein Held war er in jedem Fall.
      Ich wünsche Dir, mir und allen Menschen ganz viele Schutzengel, die auf uns alle gut aufpassen.
      LG
      Astrid

  4. Liebe Astrid,
    was für eine wunderbare Geschichte. Ich glaube ebenfalls an Schutzengel! Schön auch die Bilder dazu, die das Geschehene verdeutlichen!

    Herzliche Grüße
    Regina

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Regina,
      schrecklich und wunderbar zugleich, denn es gleicht einem Wunder.
      LG
      Astrid

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Eva,
      ja ich konnte es fast auch nicht glauben, aber es wie ein Wunder, dass das kleine Kind damals das schreckliche Ereignis unbeschadet überstanden hat.
      Liebe Herbstgrüße
      Astrid

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