Jetzt haben wir schon bald den 11. November. Für mich persönlich ist und bleibt es der Sankt Martinstag. Die Kinder verbinden mit ihm den Martinsumzug mit Laternen und mancherorts auch mit einem Sankt Martin auf dem Pferd, der mit einem Bettler seinen Mantel teilt. Selbst wenn die Geschichte vom Bischof von Tours nicht allen bekannt ist, ist diese Tradition doch noch weit verbreitet. Bei den Erwachsenen denken viele an die Martinsgans und treffen sich zum Gänseessen. Ich esse ebenfalls gerne Gänsebraten, doch ich muss auch an die vielen armen Gänse denken, die ihr Leben für den Gaumenschmaus der Menschen lassen müssen oder sogar nur deshalb gezüchtet werden.
Meine heutige Geschichte widme ich all diesen armen Gänsen:
Elisa liebt die Spaziergänge im Herbst. Wenn die Blätter sich bunt färben, selbst wenn sie von den Bäumen fallen und auch wenn der Wettergott zu weinen beginnt, hält sie nichts mehr im Haus. In wetterfester Kleidung dreht sie ihre tägliche Runde. Früher war ihr Mann an ihrer Seite, doch inzwischen ist sie alleine unterwegs, genießt die Natur und hängt ihren Gedanken nach.
Heute marschiert sie weiter als gewöhnlich. Ihr Weg führt sie bis an den Rand des Nachbardorfes. Noch bevor sie die ersten Häuser erreicht, kommt sie an einer großen Wiese vorbei. Schon aus der Ferne hat sie ein Schnattern vernommen.
„Es hört sich an, als ob es Gänse wären“, überlegt sie.
Und tatsächlich nach der nächsten Biegung sieht sie einen Hof vor einem schon fast zerfallenen Haus. Der Hof ist umzäunt und inmitten befinden sich schnatternde Gänse.
„Das müssen wohl hunderte sein“, denkt Elisa. „Ich werde mal näher heran gehen und mit meinem Fotoapparat ein paar Bilder schießen.“
Sie läuft auf die Umzäunung zu und das Schnattern wird immer lauter und aufgeregter. Die Gänse laufen alle aufgeregt durcheinander und Elisa befürchtet schon, dass sich gleich die Haustür öffnen wird und eine erboste Männerstimme ihr zuruft, sie möge doch endlich verschwinden, damit sich die Gänse wieder beruhigen. Doch niemand erscheint.
„Ich will euch doch nicht stören“, ruft sie den Gänsen zu. „Lasst mich nur schnell ein paar Fotos von euch machen.“
Ihre Bitte geht in dem Geschnatter unter und so macht sie ein paar Aufnahmen und geht wieder zurück nach Hause.
Am nächsten Tag will sie gleich nach ihrem Mittagsschläfchen die Fotos auf ihrem Computer ansehen.
„Ach, die armen Gänse“, sagt Elisa kaum hörbar. „Sie kennen noch nicht ihr Schicksal. Jede einzelne von ihnen wird erst in einem Ofen landen und dann auf Tellern.“
Elisa vergrößert die Aufnahme und betrachtet gedankenverloren die Gänseschar. Plötzlich fällt ihr Blick auf eine einzelne Gans. Sie steht genau dort am Zaun, wo Elisa ihre Fotos gemacht hat. Diese Gans scheint zu ihr hochzublicken. Elisa zoomt die Gans noch weiter heran.
„Seltsam“, flüstert Elisa fast andächtig. „Es sieht aus, als wolle sie mir etwas sagen und ihre Augen sehen traurig aus. Arme kleine Gans!“
Elisa klappt mit einem großen traurigen Seufzer den Laptop zu. Doch der Blick dieser kleinen Gans lässt sie nicht mehr los. So beschließt sie am nächsten Tag noch einmal zu dem Haus mit den vielen Gänsen zu marschieren. Sie will den Gänsen in die Augen schauen. Zu ihrer eigenen Beruhigung, denn sicher war ja alles nur Einbildung.
„Nie und nimmer kann eine Gans mit einem derartig bittenden Blick einen Menschen anschauen. Elisa, du spinnst! Du bist zu lange allein, sonst würdest du nicht auf solche absurden Gedanken kommen.“
Trotzdem kann sie am nächsten Tag dem Drang nicht widerstehen direkt zur Gänsewiese zu marschieren.
„Oh“, ruft sie entsetzt aus. „Das sind ja nur noch die Hälfte!“
Tatsächlich hat sich die Gänseschar deutlich verkleinert. Elisa lässt ihren Blick über die Tiere schweifen und versucht deren Blicke aufzufangen. Es ist unmöglich. Die Tiere zeigen keinerlei Interesse an ihr. Sie zupfen an den Grashalmen, suchen nach Essbarem, laufen kreuz und quer oder liegen einfach nur rum.
„Siehst du Elisa“, tröstet sie sich selbst. „Es war alles nur Einbildung!“
Gerade als sie sich wieder umdrehen und weggehen will, fällt ihr Blick direkt vor ihr auf die Erde. Dort steht sie wieder. Elisa und die kleine Gans sind nur durch den Zaun getrennt. Und wieder wirft die Gans ihr einen bittenden Blick zu, so als wolle sie ihr sagen:
„Bitte, bitte, hol mich hier raus.“
Elisa kniet sich und streckt ihre Hand, auf der ein kleiner Brotkrumen liegt, durch den Maschendrahtzaun. Ganz vorsichtig, als wolle sie Elisa nicht wehtun, nimmt die Gans mit ihrem Schnabel das dargebotene Futter auf.
„Ich kann dich nicht rausholen“, erklärt Elisa. „Aber ich komme morgen wieder und besuche dich.“
Elisa stellt sich, dreht sich ruckartig um, läuft strammen Schrittes nach Hause und schimpft innerlich mit sich selbst:
„Elisa, du wirst alt und sonderbar. Das war reiner Zufall und sonst nichts. Alles andere ist Blödsinn!“
Trotzdem wiederholt sich in den nächsten fünf Tagen das gleiche Schauspiel. Immer wieder steht diese eine Gans vor Elisa und sieht sie flehend an. Auch die Gänseschar wird immer kleiner. Und an diesem Tag scheint in dem Blick der Gans noch mehr Traurigkeit zu liegen. Auf das Versprechen von Elisa am nächsten Tag wieder zu kommen, glaubt sie in dem Gänseblick die traurige Botschaft lesen zu können:
„Das ist vielleicht zu spät. Wer weiß, ob ich morgen noch da bin!“
Elisa gibt der Gans, die sie inzwischen auf den Namen Luise getauft hat, noch einen Brotkrumen, dann rennt sie davon so schnell sie ihre Füße tragen können. Weit kommt sie nicht, denn schon nach wenigen Metern ist sie außer Puste.
„Elisa, du bist eben keine zwanzig mehr. Und jetzt lass endlich diesen Blödsinn. Du warst doch sonst immer ein Realist und hast dir nichts eingebildet. Also hör endlich damit auf.“
Elisa will sich noch ein letztes Mal umdrehen und dann nie wieder hierher kommen. Genau in diesem Moment zupft ihr etwas am Hosenbein. Luise, die kleine Gans war durch ein Loch im Zaun geschlüpft und hinter ihr hergelaufen und nun steht sie vor Elisa und wirft wieder ihren Blick nach oben.
„Komm mit!“, sagt Elisa und läuft zurück zur Gänsewiese. „Los, komm!“
Doch die Gans will nicht mehr zurück gehen, sie bleibt einfach stehen und harrt der Dinge, die kommen.
„Luise komm! Ich will dich nicht zurückbringen, aber ich muss doch für dich bezahlen!“
Doch Luise, die Gans, bleibt hartnäckig stehen. So läuft Elisa alleine zurück, klopft an der Haustür und tritt ein. In der Küche sitzt ein altes Mütterchen.
„Na endlich“, sagt diese. „Ich dachte schon, Sie kommen nie.“
„Wie?“, fragt Elisa verwundert. „Ich …, ich wollte die Gans bezahlen!“, stottert sie verlegen.
„Nehmen Sie die Gans einfach mit. Sie brauchen nichts zu bezahlen, denn die Gans hat Sie auserwählt. Und nun gehen Sie schon und pflegen Sie sie gut. Sie ist für Sie bestimmt und wird Ihnen Glück bringen, solange Sie für sie sorgen.“
Genau in diesem Augenblick reißt das Klingeln an der Haustür Elisa aus ihren Träumen. Vor der Tür steht ihre Freundin Luise.
„Na, hast du ein Mittagsschläfchen gemacht? Ich wollte dich nicht stören“, sagt sie entschuldigend. „Aber, ich wollte dich einladen. Wenn du Lust hast, dann komm doch morgen Abend zu uns zum Gänseessen?“
Vielleicht möchtet Ihr auch das noch lesen:
Ein Verwandter von uns ist Bauer, er hält Rinder und Gänse. Alle Tiere werden in Freilandhaltung gehalten, aber es gibt auch Ställe. Die Gänse laufen frei im Gehege. Es gab schon mehrmals Artikel in der Zeitung über diese artgerechte Haltung, voll Bio. Eine ganze Gans ist zu viel für uns, ich kaufe meist Gänsebrustfilet für Weihnachten.
Liebe Grüße von Kerstin.
Das ist schön, dass es eine solche artgerechte Haltung noch gibt.
Wir essen an dem Gänsebraten mit 6 Personen und dann gibt es im „Notfall“ noch ein Resteessen (allerdings ist dann die Personenzahl geringer).
Ich schicke Dir liebe Donnerstagsgrüße
Astrid
Liebe Astrid, sei herzlich gegrüßt.
Meine Mutter kaufte 3-4 Tage vor Heilig Abend die Gans und 1 Woche vor Weihnachten wurde immer der Weihnachtsbaum gekauft. Beides wurde zum Frischhalten draußen aufs Fensterbrett gelegt und ordentlich angebunden.
Das war damals so üblich.
Wir wohnten in der ersten Etage.
Tschüssi Brigitte
Oh, das war aber knapp vor dem Weihnachtsfest. Ich glaube drei oder vier Tage vor dem Fest, bekommt man heute keine Gans mehr. Die muss man ja schon lange vorher bestellen.
Meine Schwiegermutter stellte im Winter auch immer die Töpfe mit den Resten auf den Balkon, da sie dort recht frisch bleiben. Außerdem ist an solchen Festtagen meist kein Platz mehr im Kühlschrank.
LG
Astrid
Hallo liebe Astrid,
och Mensch… erst so eine schöne Geschichte und dann so ein Ende. Schade das es nur ein Traum war. Unweit von unserem Dorf gibt es auch eine Gänsefarm, noch sind es ganz viele, aber ich möchte nicht wissen wie es nächste Woche aussieht.
Liebe Grüße
Biggi
Oh ja, mit der Martinsgans fängt es an und mit der Weihnachtsgans geht es weiter. Ich glaube nicht, dass auch nur eine einzige Gans von solch einer Gänsefarm das Weihnachtsfest überlebt.
Ich gestehe, bei uns gibt es auch einen Gänsebraten zum Fest. Das ist so Tradition bei uns in der Familie.
LG
Astrid
Liebe Astrid, mir tun diese Gänse auch so leid. In Frankfurt laufen wir auf den Feldern auch an so einer Farm vorbei , da werden es auch immer weniger von Woche zu Woche um diese Zeit. Liebe Grüße Eva
Liebe Eva,
hier kann ich das Gleiche beobachten. Die Gänse werden ja meist schon ein Jahr im Voraus bestellt und extra als Weihnachts- oder Martinsgans gezüchtet. Gut, dass man die Weihnachtsgans nicht persönlich kennt. Ich würde keinen Bissen hinunter bekommen.
LG
Astrid
Liebe Astrid, da hätte ich ein neues Haustier! Ich habe nocheinmal mejne Adresse gewechselt http://lebensartnorwegen.blogspot.com
Liebe Grüße Eva
Danke für die Info, liebe Eva. Ich werde es nachher in meiner Blogroll umändern.
LG
Astrid
Bei uns ist es Tradition, dass jedes Jahr Gänseessen mit der Familie stattfindet. Meine Oma hatte eigene Gänse. Da gabs die Martinsgans und an Weihnachten nochmal einen Gänsebraten. Meine Mutter hielt diese Tradition aufrecht. An Weihnachten saßen wir alle am Tisch und ließen uns die Gans schmecken.
Auch wir braten dieses Mal wieder eine Martinsgans. Aber wir legen Wert darauf, dass es eine „glückliche“ Gans war, die artgerecht aufgezogen wurde. Ich darf nicht daran denken, wie die „preisgünstigen“ armen Gänse, die meist aus Polen und Ungarn kommen, gestopft werden…
Viele Grüße
Traudi
Ja, das ist schon sehr traurig, wenn man an diese armen wehrlosen Tiere denkt.
Bei meinen Schwiegereltern gab es schon immer an Weihnachten einen Gänsebraten. Da wir nach dem frühen Tod meines Vaters (vor 32 Jahren) immer alle zusammen gefeiert haben, hat dieser Brauch auch bei uns Eingang gefunden. Wenn an Weihnachten die Mütter zu uns kommen, gibt es also auch einen Gänsebraten. Ich kann nur hoffen, dass die Tiere ein glückliches Leben hatten. Bestimmt denke ich dieses Mal an die Gans Luise.
LG
Astrid
ohhhh..
so eine schöne Geschichte..
auch wenn es nur ein Traum war 😉
die armen Gänse tun mir auch Leid..
ich glaube ich habe als Kind zuletzt Gänsebraten gegessen
den gab es bei uns an Weihnachten
liebe Grüße
Rosi
Liebe Rosi,
wenn ich an einer Gänsewiese vorbei komme, dann tun mir die armen Tiere auch leid. Allerdings muss ich gestehen, dass es bei uns traditionsmäßig Weihnachten auch immer Gänsebraten gibt. Aber dieses Weihnachten werde ich sicherlich an Elisa und Luise denken müssen, wenn ich vor meinem Teller sitze.
LG
Astrid
Mit diesem Schluss hatte ich nicht gerechnet. Es wäre einfach zu schön gewesen, wenn sich die Geschichte wirklich so zugetragen hätte – aber so zeigt sie die Realität! Eine wunderbare Geschichte – wieder einmal großartig erzählt! LG Martina
Danke, Martina. Mit dem Schluss hatte ich bis kurz vorher auch nicht gerechnet ;-). Aber Du weißt ja selbst, wie das so beim Schreiben ist. Plötzlich ist die Idee da…
LG
Astrid
Liebe Astrid,
ich wette, dass sie die Einladung nicht annehmen wird. Was für eine schöne Geschichte, gespannt habe ich sie gelesen!
Herzliche Grüße
Regina
Ich schätze, diese Wette hast Du gewonnen. 😉
Ich hopse mal schnell zu Dir und schaue nach, was es Neues von Clara gibt.
Bis dann
Astrid