Kurzgeschichten
Kommentare 16

Was ist nur los?

Sie saß in dem Zimmer, das man ihr zugewiesen hatte. Es war kein großes Zimmer, aber ausreichend und gemütlich war es auch. Es hatte ein großes Fenster zum Garten hin, in dem allerdings ohnehin gerade nichts passierte. Wenn sie hinaus schaute, sah sie nur wie der Regen auf die Wiese platschte und sie in einen großen See verwandelte. Es sah aus, als ob der Himmel weinen würde.

Eine seltsame Stimmung breitet sich in ihrem Bauch aus. Ein Kribbeln, ein Ziehen und ein Zusammenkrampfen. Woran lag das? Und überhaupt, was war das? Noch nie hatte sie ein solches Gefühl verspürt. Es tat fast ein wenig weh. Nein, es tat ganz schrecklich weh.
Sie warf sich auf das Bett und starrte an die Zimmerdecke. Im Haus war alles ruhig, nur von unten aus der Küche klang das Klappern der Töpfe.
Seit drei Tagen war sie nun schon hier. Sie war ja selbst daran schuld. Man hatte sie auf die Situation ausdrücklich hingewiesen. Niemand außer ihr traf eine Schuld. Das war ihr klar. Und trotzdem hätte sie gerne jemand die Schuld dafür in die Schuhe geschoben. Leichter wäre es trotzdem nicht geworden, aber man hätte vielleicht auf eine andere Person sauer sein können. Aber so musste sie alles mit sich selbst ausmachen. Nur wie, das wusste sie jetzt und in diesem Moment auch noch nicht. Alles, was sie wusste war, dass sie sich nichts anmerken lassen durfte. Sie musste einfach nur so tun, als sei alles ganz normal und in bester Ordnung. Doch wie macht man das, wenn innerlich alles rebelliert und vibriert? Gute Miene zum bösen Spiel, so hatte sie neulich in einer Geschichte gelesen. Sie setzte sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann atmete sie dreimal tief durch, so als gelte es Kraft zu schöpfen und sich selbst Mut zu machen. Danach stand sie auf, durchquerte das Zimmer und öffnete die Tür. Von unten drang Essengeruch nach oben. Sie lief die Treppe nach unten und sah ihre Tante am Herd stehen. Auf der untersten Stufe blieb sie stehen und setzte, wie sie meinte, ein fröhliches Gesicht auf. Doch anscheinend war sie keine gute Schauspielerin, die von einer Sekunde auf die andere in eine neue Rolle schlüpfen konnte. Ihre Tante, die sich zu ihr umdrehte, erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte:
„Ist irgendetwas nicht in Ordnung mit dir?“
„Doch, doch!“, versuchte sie die Situation zu überspielen und lächelte gequält.
„Aber du siehst ganz blass aus. Geht es dir nicht gut? Tut dir etwas weh?“
„Nein, nein! Es ist schon alles in Ordnung.“
Tapfer schluckte sie, denn sie spürte, wie die Tränen aufsteigen wollten.
„Nur nicht weinen!“, dachte sie und schluckte noch einmal.
Jetzt stand die Tante direkt vor ihr und sah sie mitleidig an.
„Bist du traurig?“, fragte sie sanft.
Sie schluckte noch einmal, aber schon sackte sie zusammen und sank auf die Treppenstufe. Dort kauerte sie wie ein Häufchen Elend und verbarg das Gesicht hinter ihren Händen. Die Tante sollte es nicht sehen, denn ihr rannen die Tränen aus den Augen.
„Es tut so weh!“, presste sie dann aber doch heraus.
„Du hast Heimweh, stimmt es?“, fragte die Tante in einem ruhigen Ton und strich ihr über die Haare.
Sie nickte kaum sichtbar. Ja, sie hatte Heimweh, ganz schreckliches sogar.
„Wollen wir die Mutti anrufen?“
Die Tante nahm sie an der Hand und ging mit ihr ins Arbeitszimmer, in dem das einzige Telefon im ganzen Haus stand. Die Tante wählte eine lange Nummer und reichte den Hörer weiter an Astrid.

Ja, dieses traurige kleine Mädchen war ich. Es ist ziemlich lange her, fast wie aus einem anderen Leben. Deshalb habe ich auch in der dritten Person geschrieben. Vielleicht auch, um meine damaligen Gefühle besser darstellen zu können.
Ich war damals höchstens zehn Jahre alt. Meine Eltern und ich waren an einem Wochenende zu der Cousine meines Vaters und deren Familie gefahren, die in Nürnberg wohnten. Es waren von meinem Elternhaus aus etwas mehr als 250 Kilometer. Ein Katzensprung, würde man heute denken. Aber vor 40 Jahren war es noch eine Entfernung, die man nicht mal so spontan zurücklegte. Die Autos heutzutage fahren schneller und die Straßen und Autobahnen sind auch besser ausgebaut. So musste man damals mit guten drei Stunden Fahrtzeit rechnen. Für ein zehnjähriges Mädchen zu der damaligen Zeit bedeutete dies keine geringe Distanz.
Ich freute mich zu Tante Christel und Onkel Toni zu fahren, wie ich die beiden nannte. Auch freute ich mich auf deren Söhne, die in einem ähnlichen Alter waren, wie ich. Wir verstanden uns prima und ich war von deren Rennbahn, die im obersten Zimmer des Hauses aufgebaut war, begeistert. Kein Wunder also, dass ich am Abreisetag nicht nach Hause fahren wollte. Außerdem waren gerade Ferien.
Ich lag also meinen Eltern in den Ohren, sie mögen mich doch da lassen und erst am nächsten Wochenende wieder holen.
„Eine Woche kann ziemlich lange sein“, meinte meine Mutter, die mich sicherlich auch gerne wieder mit nach Hause genommen hätte. Zumal ich zum damaligen Zeitpunkt noch nie alleine weg war und schon gar nicht so lange und so weit.
„Die beiden Jungs fahren aber morgen schon zu ihrer Oma und Onkel Toni muss in einer anderen Stadt arbeiten und kommt auch erst am Freitag wieder. Du bist dann mit mir alleine. Wenn du dich nicht mit mir langweilst, darfst du gerne bleiben. Ich freue mich“, erklärte mir die Tante.
„Ich muss auch die ganze Woche arbeiten und kann dich wirklich erst am nächsten Wochenende wieder holen“, meinte mein Vater. „Wirst du auch kein Heimweh bekommen?“
„Ach Quatsch! Ich bin doch schon groß und bekomme kein Heimweh.“
Davon war ich in diesem Moment felsenfest überzeugt. Und anscheinend brachte ich dies so glaubhaft rüber, dass sie mich tatsächlich in Nürnberg ließen. Und es ging ja auch gut, bis dann am dritten Tag das Heimweh so groß wurde, dass ich es nicht mehr verbergen und auch nicht mehr aushalten konnte. Tante Christl hatte viel mit mir unternommen. Wir besuchten die Burg, waren in der Stadt und machten dies und das. Sie kochte nur das, was ich auch gerne aß, denn sie wusste, dass ich ein schlechter Esser war. Sie war total lieb zu mir.
Heute würde man über Festnetz oder Handy in telefonischer Verbindung bleiben, aber damals hatten meine Eltern noch kein Telefon. Also musste meine Tante bei den Nachbarn anrufen, die dann meine Mutter holten. So konnte ich ihre Stimme hören und sie mein herzzerreißendes Schluchzen.
Was war also das Ende vom Lied? Meine Eltern setzten sich noch am selben Abend, nachdem mein Vater Feierabend hatte, ins Auto und fuhren nach Nürnberg. Da mein Vater keinen Urlaub hatte und meine Mutter keinen Führerschein besaß, fuhr er mit uns also noch in dieser Nacht wieder nach Hause, um dann morgens um sieben wieder zur Arbeit zu fahren. Was man nicht alles so für sein Töchterchen tut. Danke Papa!
Ich weiß jetzt auf alle Fälle wie sich Heimweh anfühlt und dass es tatsächlich richtig weh tut. Da kann mir keiner mehr was vormachen!

* Das Beitragsfoto stammt von unserem Sohn, der es mir für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt hat.

16 Kommentare

  1. Liebe Astrid, das hast du wunderbar geschrieben, aber auch selbst erleben müssen.
    Heimweh kann wirklich wehtun und krank machen.
    Boah, da hat dein Vater aber einen super Einsatz gebracht für seine Tochter.
    deine Bärbel

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Bärbel,
      für sein Töchterchen hat mein Vater alles gemacht. Leider kann ich mich nicht mehr bei ihm bedanken, denn er ist schon seit 31 Jahren in einer anderen Welt.
      Und, dass Heimweh richtig weh tun kann, davon kann ich jetzt ein Liedchen singen. Ich glaube das Erlebnis hat mich auch irgendwie geprägt. Ohne meine Lieben bin ich nicht gerne.
      Ganz liebe Grüße
      Astrid

  2. Hallo Astrid,
    das ist also die Vorgeschichte – ich lese leider rückwärts. Na, wenigstens weiß ich jetzt, dass es nicht an der Tante lag, und alle nett zu dir waren. Solche Erfahrungen gehören zum Leben dazu. Dass du aber tatsächlich gleich wieder abgeholt wurdest – alle Achtung. Aber ich habe ja vorher deinen Brief gelesen. Der war schon sehr eindringlich 😉
    Lieben Gruß
    Elke

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Elke,
      ich merke, dass Du rückwärts gelesen hast. Macht nichts.
      Ja, eine Erfahrung war es, aber ich glaube sie hat mich auch geprägt. Ich möchte auch heute nicht gerne ohne meine Familie oder zumindest nicht ohne meinen Göttergatten verreisen.
      Als ich meinem Peter den Brief gezeigt habe, meinte er nur: „Ich wundere mich sehr, dass Deine Eltern Dich dort gelassen haben.“ Wie schon gesagt, ich war ein behütetes Einzelkind.
      LG und nochmals vielen lieben Dank für Deine netten Kommentare
      Astrid

  3. Heimweh kenne ich überhaupt nicht. Ich war als Kind viel bei meinem Opa und meiner Tante. Meine Cousine war wenige Jahre älter als ich und wir hatten immer viel Spaß zusammen. Außerdem hatte mein Opa ein kleines Stück Garten und Kaninchen, das hatten wir zu Hause alles nicht.

    Als mein Bruder geboren wurde und mein Vater mich mit dieser Nachricht abholte, wollte ich erst mein Spiel beenden. Erfreut war ich mit meinen damals 5 jahren nicht gerade 🙂 .

    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende,
    Anna-Lena

    • Astrid Berg sagt

      Ja, wenn die beiden Jungs damals dagewesen wären, vielleicht hätte sich mein Heimweh dann in Grenzen gehalten. Aber so war es schon massiv.
      LG und einen sonnigen Tag
      Astrid

  4. Heimweh? Da muss ich wirklich überlegen, kann ich eigentlich nicht kennen, war noch nie allein weg (schmunzeln)
    Aber einmal sind wir umgezogen und brachten meine vierjährige Tochter zu meiner Schwester nach Friedrichshafen. Die erste und einzige Trennung als sie noch ein Kind war.
    Mein Mann und ich waren den ganzen Tag beschäftigt mit dem Renovieren der neuen Wohnen, doch dann abends im Bett seufzte mein Mann sehnsüchtig: „Unser Kopferle!“
    Claudia kam nämlich immer mitten in der Nacht, die Bettdecke hinter sich herschleifend in unser Schlafzimmer und wenn wir morgens aufwachten, dann lag ihr blondgelocktes kleines Köpfen zwischen uns. Ach jaaa, könnte man solche Augenblicke doch für immer festhalten.
    Wünsche dir ein schönes Wochenende, liebe Grüße, Lore

    • Astrid Berg sagt

      Ach ist das eine schöne kleine Geschichte.
      Ich hatte auch immer große Sehnsucht, wenn unser damals kleiner Sohn nicht da war. Das kam aber selten vor, meist war ich dabei, selbst auf Klassenfahrt (nur ab dem Teenageralter nicht mehr).
      Sei froh, dass Du noch nie Heimweh hattest, mir hat dieses Erlebnis in meiner Kindheit gereicht. Wahrscheinlich möchte ich seither auch nicht mehr alleine weg. So was prägt 🙂
      LG und ebenfalls ein schönes Wochenende
      Astrid

  5. Astrid Berg sagt

    Liebe Irmi,
    ich bin schon immer nicht gerne alleine und wahrscheinlich hängt es damit zusammen. Ich genieße es ein paar Stunden alleine zu sein, aber dann brauche ich wieder meine Lieben um mich. Und als Kind waren das nun mal meine Eltern. Die Tante war sehr lieb zu mir, aber ich habe eben meine Eltern vermisst.
    LG und eine gute Nacht
    Astrid

  6. Astrid Berg sagt

    Irmi schreibt:
    Liebe Astrid,
    früher habe ich auch sehr unter Heimweh gelitten. Das hat sich gelegt,
    als ich meine erste Auswärtsstelle angenommen habe.
    Deine Geschichte ist sehr schön. Ich hatte sogar Tränen in den Augen.
    Einen schönen Abend wünscht dir
    Irmi

  7. Eva V. sagt

    Oh Astrid, mein ganzes Leben verfolgt mich dieses Heimweh. Heutzutage wieder, wenn ich wieder nach Deutschland muss, ist es wieder da, das Heimweh. Schlimm! Liebe Grüße Eva

    • Astrid Berg sagt

      Und es tut so richtig weh. Stimmt’s?!
      Ich dachte schon nur mir würde es so gehen und alle anderen würden es nicht kennen oder verstehen. Aber anscheinend können wir ja schon bald einen Club gründen und uns gegenseitig trösten 😉
      LG
      Astrid

  8. Martina sagt

    Oh, wiiieee gut kenne ich das. Bis heute leide ich darunter. Es ist ganz furchtbar!!! Allerdings wäre ich auch nieeemals bei der Tante geblieben, die soooo weit weg wohnt. Dazu war ich viel zu sehr ein ‚Schisser‘. – Wir waren im Frühjahr eine Woche lang an der Nordsee, hatten Tochter, Schwiegersohn und die beiden Enkel ‚im Gepäck‘, weil unsere große Enkeltochter sooo Heimweh nach uns hatte, als mein Mann und ich das letzte Mal alleine verreist waren. Heißt also: Auch das hat sich vererbt. Ich werde es wohl niemals los, schätze ich und bewundere andere Menschen, wie z. B. Irmi, die zu dem Thema einmal schrieb: Heimweh ist mir unbekannt – ich kenne nur das Fernweh! Nun, das ist mir fremd!!! 🙂 LG Martina

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Martina,
      danke für Deinen lieben und langen Kommentar.
      Heimweh kenne ich, Fernweh eigentlich nicht, wenn dann nur bedingt. Ich reise sehr gerne und lerne auch gerne fremde Länder kennen, aber ich komme auch gerne wieder zurück. Ich bin auf jeden Fall kein Typ, der auswandern würde. Wenn die Familie dabei ist, bin ich gerne auch länger weg. Aber allein,- nein, ganz eindeutig nein!
      LG
      Astrid

  9. Ich konnte mit der kleinen Astrid gut mitfühlen, Heimweh, das kenne ich gut. Sogar heute noch!
    Herzliche Grüße
    Regina

    • Astrid Berg sagt

      Hallo Regina,
      um ehrlich zu sein: Allein und in der Fremde, das ist immer noch nicht ganz so mein Ding.
      Wahrscheinlich hat mich meine damalige Erfahrung mit dem Heimweh doch sehr geprägt, obwohl die Tante sehr lieb war zu mir. Ich habe dieses bedrückende Gefühl auch nie ganz vergessen.
      LG
      Astrid

Schreibe einen Kommentar zu Anna-Lena Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert