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Der Einzelgänger (3)

Hannes Findel hatte sich also mit 19 Jahren, – gerade das Abitur in der Tasche, aber noch keine Idee, wie es beruflich weitergehen sollte, – auf die Suche nach einer geeigneten Familie zwecks Adoption gemacht. Das hatte sich als gar nicht so einfach entpuppt. In seiner Vorstellung sollte es am besten ein Ehepaar sein, das so in die Fünfzig, besser vielleicht sogar schon Mitte Sechzig war, denn er wollte sie als Adoptivsohn auch in nicht allzu ferner Zukunft beerben. Kinderlos sollte das Ehepaar auf jeden Fall sein und möglichst keine Verwandtschaft mehr besitzen.

„Ich muss mir eine Strategie überlegen, wie ich an ein geeignetes Ehepaar herankomme. Ich kann ja schlecht eine Anzeige aufgeben:

‚Suche kinderloses Ehepaar zwecks Adoption‘.“

Das mit der Anzeige war vielleicht gar nicht so schlecht, nur nicht in dieser Art und Weise.
“Vielleicht sollte ich meine Dienste als Gärtner oder so anbieten. Da ein bisschen schnippeln, dort ein bisschen hacken und die Blumen gießen. Nur in Arbeit sollte es nicht ausarten, außerdem sind meine gärtnerischen Fähigkeiten etwas begrenzt“, dachte er.
Gärtner, so hatte sich Hannes Findel überlegt, wurden meist von gutbetuchten Leuten gesucht. Erstens hatte Haus und Garten nur derjenige, der es sich auch leisten konnte und zweitens hielt man nach einem Gärtner Ausschau, wenn man es nicht selbst machen konnte oder wollte und diesen Dienst zu bezahlen in der Lage war.
So hatte er sich mehr oder weniger zielstrebig in Villenvierteln herumgetrieben, ohne jedoch auch nur ansatzweise seinem Ziel näherzukommen. Dann war es allerdings der Zufall gewesen, der ihm zu Hilfe gekommen war und der alles veränderte:

Es war an einem Tag Ende April gewesen. Die Sonne lachte fröhlich vom Himmel, als sei der letzte Regenschauer nicht gerade mal erst zwei Stunden her. Hannes Findel war auf dem Rückweg von einem Villenviertel rauchend und gedankenverloren im Stadtpark umhergeschlendert. Es waren viele Leute unterwegs gewesen, die durch den plötzlichen Sonnenschein aus den Häusern gelockt worden waren. Vor ihm war ein älterer Herr mit seinem Hund gelaufen, dessen Interesse durch irgendetwas geweckt worden war, so dass er ruckartig an seiner Leine zog. Der Rentner, der darauf nicht gefasst gewesen war, hatte die Leine fallen lassen und der Hund war quer über den Weg in Richtung einer Baumgruppe gerannt. Just in diesem Moment hatte eine ältere Fahrradfahrerin den Hundehalter überholen wollen und hatte so stark und unvermittelt bremsen müssen, dass sie über die Lenkstange ins Gras gefallen war. Etwas benommen hatte sie aufzustehen versucht, was ihr aber durch einen stechenden Schmerz im Unterschenkel, der sie aufschreien hatte lassen, nicht gelungen war.
„Um Gottes Willen, haben sie sich verletzt?“, hatte der Hundehalter überflüssigerweise gefragt. „Kommen Sie ich helfe Ihnen auf!“
Tja, das war leichter gesagt, als getan, denn der Mann hatte selbst Mühe gehabt auf seinen eigenen Beinen zu stehen.
„Lassen Sie das mal den jungen Herrn dort machen“, meinte die Radfahrerin.
Hannes hätte dies ohnehin getan, denn hilfsbereit konnte er schon sein.
„Kommen Sie, setzen Sie sich erst einmal auf die Bank“, hatte er die Radfahrerin aufgefordert. „Mit dem Rad können Sie nicht mehr fahren und ich fürchte mit Ihrem Bein können Sie nicht auftreten, geschweige denn laufen. Ich rufe erst einmal einen Krankenwagen und ihr Rad bringe ich zu Ihnen nach Hause, wenn Sie mir sagen wo Sie wohnen.“
„Ich werde natürlich für den Schaden an Ihrem Fahrrad aufkommen und für die Arztkosten selbstverständlich auch. Wenn ich dem jungen Mann meinen Namen und die Anschrift nennen darf, damit meine Versicherung alles regeln kann“, hatte der Hundehalter angeboten.

Tja, so war Hannes Findler zu einer Familie gekommen, wie die Jungfrau zum Kind. Er hatte der Fahrradfahrerin geholfen und sie anschließend fast jeden Tag zu Hause besucht. Sie hatte ihr Bein zwar nicht gebrochen, aber ruhig halten musste sie es trotzdem und er hatte ihr aus freien Stücken geholfen, wo er nur konnte, im Haushalt, beim Einkauf und im Garten. Er hatte sie auf seine Art gemocht, aber er hatte auch sein Ziel nicht ganz aus den Augen verloren. Die Frau hieß Janna Ziegler, war geschieden, alleinlebend und hatte einen Bruder, der ebenso wie sie gut betucht war.
Hannes hatte Janna erzählt, dass er als Findelkind immer in Heimen gelebt und niemals eine Familie gehabt hatte, was selbstverständlich ihr Mitleid erregte. Gleichzeitig hatte er sie sozusagen umgarnt, ihr gesagt, dass er sich immer eine Mutter wie sie gewünscht hatte, was nicht einmal gelogen war. Janna und auch ihr älterer Bruder sahen in Hannes, den vom Schicksal benachteiligten jungen Mann, dem die Chance auf eine erfolgreiche Zukunft von Geburt an genommen war.
„Ich habe gelernt und das Abitur geschafft, erzählte er ihnen nicht ganz ohne Stolz. „Wäre ich in einer Familie aufgewachsen, wäre alles anders gekommen. Ich könnte studieren, aber so muss ich jetzt einfach nur sehen, dass ich Geld verdiene, egal mit welcher Arbeit. Vielleicht kann ich mir jeden Monat etwas zurücklegen und irgendwann meinen Traum vom Studium erfüllen.“

Sein Plan ging auf, zumindest fast. Janna Ziegler hatte den jungen Mann inzwischen ins Herz geschlossen, er tat ihr von Herzen leid. Und Hannes selbst entwickelte ebenfalls eine Art Zuneigung zu der älteren Dame. Letzteres hatte allerdings nicht zu seinem Plan gehört.

„Du bist verrückt“, hatte ihr Bruder trotz allen Mitleids versucht ihr die aufkeimende Idee auszureden. „Du kennst ihn doch gar nicht. Die paar Wochen, die er zu dir kommt und die Kleinigkeiten, bei denen er dir geholfen hat, stehen doch in keinem Verhältnis zu deinem Vorhaben. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was du dir da in den Kopf gesetzt hast.“
Richtige Argumente für seine Skepsis hatte er allerdings nicht nennen können; es war einfach nur ein Bauchgefühl gewesen.
„Vielleicht täusche ich mich ja, vielleicht auch nicht.“

Janna Ziegler hatte sich durchgesetzt und Hannes Findel ein Universitätsstudium finanziert. Nachdem Hannes einmal gewechselt hatte, von der Psychologie zur Philosophie, entschied er sich für den Journalismus, der schließlich sein echtes Interesse geweckt hat und der ihm hoffentlich ein besseres Leben ermöglichen wird.

Doch die Tatsache ungeliebt, ungewollt und verstoßen worden zu sein, wird ihn niemals ganz zur Ruhe kommen lassen und weiterhin einen Schatten auf sein Leben werfen.

Bei einer seiner Recherchen zu einem Artikel über nicht sesshafte Volksgruppen vor 20-30 Jahren in unserem Land, stieß er zufällig auf ein Foto. Dieses war ca. 50 Kilometer von seinem „Fundort“ entfernt und wenige Wochen vor seinem vermuteten Geburtstag aufgenommen worden. Es zeigte eine junge schwangere Frau, deren Gesichtszüge …

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23 Kommentare

  1. Hallo liebe Astrid,
    hach nun heißt es wieder warten … ob sie wirklich seine Mutter ist?
    Ich wünsche es ihm. Es ist so wichtig das man weiß wo man her kommt und wer seine Eltern sind, wie sie Leben und warum sie ihn weggegeben haben. So viele Fragen sind zu klären.

    Liebe Grüße
    Biggi

    • Astrid Berg sagt

      Ja, Fragen über Fragen. Und diese Fragen werden ihn sein Leben lang begleiten. Ob er jemals Antworten darauf finden wird, lassen wir dahingestellt.
      LG
      Astrid

  2. Liebe Astrid, Deine Geschichte zeigt, dass es schon sehr wichtig ist, seine Wurzeln zu kennen, ansonsten kommt man nicht zur Ruhe. Heutzutage ist dies auch in Bezug auf Erbkrankheiten gut zu wissen, weil die Medizin sich entsprechend darauf einstellen kann. Bei bestimmten Krankheiten muss man einfach wissen, ob man familiär belastet ist. Liebe Grüße Eva

    • Astrid Berg sagt

      Das stimmt, liebe Eva, auch in gesundheitlicher Sicht kann die Kenntnis der eigenen Herkunft wichtig sein. Ohne seine Wurzeln zu kennen, schwebt man so im Nichts ,- auch aus seelischer Sicht. Man bezieht alle „Könnte“ und „Vielleicht“ in seine Überlegungen mit ein, findet aber nie eine Antwort. Ich stelle mir dies sehr belastend vor.
      LG und einen schönen Sonntag
      Astrid

  3. Eine Geschichte die wirklich zum Nachdenken anregt und auch zeigt wie wichtig ein behütetes Elternhaus doch ist und dass die Narben die man als Kind erhält das spätere Leben doch immer wieder beeinflussen.
    Ich selbst hatte eine schöne Kindheit und auch meine Tochter, deshalb wohl habe ich mich weniger glücklichen Kinder angenommen, aber ich weiß, nicht immer kann man helfen.
    Nur eines meiner „Mädchen“ erklärt mir heute noch: „Was ich heute bin, habe ich dir zu verdanken“
    Liebe Astrid, ich wünsche dir einen schönen Tag, herzliche Grüße Lore

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Lore,
      leider komme ich erst heute dazu Deinen lieben Kommentar zu beantworten und Dir dafür zu danken.
      Eine schöne Kindheit ist prägend für ein ganzes Leben. Auch wir durften dies genießen.
      Ich finde es toll, dass Du Dich um etwas benachteiligte Kinder kümmerst. Und ihr Dank dafür scheint Dir ja gewiss zu sein.
      Ich wünsche Dir einen wunderschönen sonnigen Tag
      Astrid

  4. Liebe Astrid,
    an Hannes Geschichte kann man sehr gut erkennen, wie sehr doch die Kindheit dem Leben einen Stempel aufdrückt. Nur wenige schaffen es, sich dem zu entziehen und glücklich zu werden trotz der Vorgeschichte. Ob es Hannes gelingen wird, das bleibt offen und das ist auch gut so, denn es gibt kein Patentrezept, selbst dann nicht, wenn er wirklich seine Mutter finden sollte. Wir wissen ja nicht, was für ein Mensch sie ist.
    Ich beschäftige mich gerade mit der Kindheit in meiner Generation, um mich selbst besser zu verstehen. Dabei bin ich auf interessante Lektüre gestoßen, die mir immer wieder neue Denkanstöße bietet. Auch deine Geschichte reiht sich wunderbar ein in das, was mich gerade beschäftigt.
    Herzliche Grüße
    Regina

    • Astrid Berg sagt

      Hallo liebe Regina,
      ich glaube ebenso wie Du, dass die Kindheit sehr wichtig ist und unser Leben bestimmen kann, zumindest Einwirkungen auf unser Leben hat.
      Ich freue mich, dass meine Geschichte sich in Deine Überlegungen einreiht und für Dich von Interesse ist. Wenn man sich manchmal fragt, warum man so ist, wie man ist, dann kann man mit Sicherheit die Kindheit nicht außer Acht lassen, doch unsere gesamte Sozialisation spielt hierbei eine große Rolle. Aber den größten Teil der Verantwortung dafür, was aus uns geworden ist, tragen wir selbst.
      LG
      Astrid

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Bärbel,
      ich möchte die Geschichte eigentlich hiermit beenden und durch das offene Ende den Leser in seine eigenen Gedanken und Überlegungen entlassen. Wie ich auch inzwischen bemerkt habe, hat jeder von Euch eine eigene Vorstellung von dem entwickelt, wie es in Hannes Leben weitergehen wird. Und so soll es auch sein, denn das Leben lässt sich keinen Weg vorschreiben.
      LG und eine geruhsame Nacht
      Astrid

  5. Liebe Astrid, es ist kein Abschluss dieser Geschichte, denn wir können es uns selbst vorstellen, wie es weitergeht. Da habe ich so meine Zweifel, dass er nur ein guter, hilfsbereiter Mensch wird, er sieht zu, nicht nur gedanklich, wie er weiterkommt im Leben.
    Sich von anderen Menschen bezahlen lassen, ist für ihn auch kein Problem, siehe Studium in 3 Fächern … ältere Eltern um zu erben.
    Na, ja, ich wünsche ihm Glück.

    Einen schönen Tag und liebe Grüße, Margot.

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Margot,
      nein die Geschichte hat keinen Abschluss, weil das Leben weitergeht und es kein Patentrezept gibt. Ich denke jedoch,dass er seinen Weg gehen wird und dieser nicht in kriminellen Bahnen verlaufen wird, aber ein einfacher Weg wird es sicher nicht sein.
      LG
      Astrid

  6. Hallo Astrid,

    ich befürchte auch der gute Hannes wird immer ein gewisses Problem behalten, dies dürfte auch eine Adoption nicht ändern, aber ich lasse mich natürlich gerne Überraschen 🙂

    Hoffentlich hat er die Dame weiterhin in Ehren gehalten 🙂

    Liebe Grüße und einen tollen Abend wünsche ich Dir
    Björn 🙂

    • Astrid Berg sagt

      Hallo Björn,
      Hannes muss versuchen seine Vergangenheit zu akzeptieren und an seiner Gegenwart und Zukunft arbeiten. Da er eigentlich einen guten Kern hat,wird er das,was die alte Dame für ihn getan hat zu schätzen wissen -egal ob mit oder ohne Adoption
      Auch ich wünsche Dir einen wunderschönen Abend.
      LG
      Astrid

  7. Christine R. sagt

    Liebe Astrid,
    gerade habe ich Deine Geschichte vom Einzelgänger entdeckt – und alle drei Teile regelrecht „verschlungen“.
    Es prägt einen Menschen schon sehr, wenn er von Kindheit an keine Liebe und keine Anerkennung erfährt. Man kann nur hoffen, dass Hannes doch noch „die Kurve kriegt“ und vielleicht irgendwann eine eigene Familie gründet. Doch auch für eine Frau wäre es nicht leicht, mit ihm zusammenzuleben. Das Gefühl, nicht geliebt zu werden, ist nur sehr schwer abzulegen …
    Vielen Dank für diese Geschichte, die sich ohne Weiteres so ereignet haben könnte!
    Liebe Grüße
    Christine

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Christine,
      vielen Dank für deinen ausführlichen und lieben Kommentar.
      Hannes wird sein ganzes Leben unter diesem Liebesmangel leiden,selbst wenn er eines Tages eine eigene Familie haben wird. Liebe schenken und Liebe erhalten, ist die Basis um ein glückliches und erfülltes Leben aufbauen zu können.
      LG
      Astrid

  8. Liebe Astrid, das macht nachdenklich! Ich weiß noch gar nicht, was ich von dem jungen Mann halten soll. Diese Ambivalenz zwischen dem Gefühl angenommen zu sein, und dem gleichzeitigen Misstrauen und der Berechnung, die er sich zum Überleben angewöhnt hat, hast Du super beschrieben. So zwiegespalten wie man seiner Figur gegenübersteht, genauso zwiegespalten ist er ja auch. Er wird sich vielleicht nie ganz hingeben, nie ganz vertrauen, nie ganz richtig glücklich sein…LG Tanja

    • Astrid Berg sagt

      Liebe Tanja,
      Genau dieses Zwiespältige wollte ich aufzeigen, denn er hat einen guten Kern ,aber er ist auch vom Schicksal geprägt. Somit kommt auch die Berechnung mit ins Spiel. Das offene Ende musste sein, denn ein wahres Happy End passt ebenso wenig zu ihm und seinem Leben wie ein erneuter Schicksalsschlag. Sein Leben wird mit Höhen und Tiefen weiter gehen.
      LG
      Astrid

  9. Manchmal hilft einem das Schicksal auf die Sprünge und zeigt nicht geplante Wege auf. Nun wird sein Leben doch wohl in Bahnen verlaufen, die er sich erhofft hat, oder?

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