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Das fliegende Ei

Wir sitzen im Flieger von Teneriffa zurück nach Berlin. Schade, denn wir lassen das schöne sonnige Wetter zurück und tauschen es gegen Temperaturen von ungefähr 6 Grad ein, allerdings mit der Hoffnung auf Sonnenschein an Ostern. Ich überlege, welche Geschichte aus unserem Leben zum Osterfest passen könnte, aber da hilft mir Peter auf die Sprünge.

Es gibt eine lustige Begebenheit aus der Familie meines Vaters, die ich allerdings auch nur aus Erzählungen kenne. Es ist also sozusagen eine alte familiäre Überlieferung.“

„Und das ist eine Ostergeschichte?“, frage ich zurück.
„Das kann ich dir jetzt nicht sagen, aber es geht um ein fliegendes Ei.“
Logisch, dass ich jetzt neugierig werde, denn fliegende Eier kenne ich nicht. Seinem schelmischen Grinsen merke ich jedoch an, dass ich vielleicht den Ausspruch nicht ganz so wörtlich nehmen sollte.
„Das ist jetzt aber kein nachträglicher Aprilscherz, oder?“
„Nein, nein. Pass mal auf!“, beginnt Peter mir diese Geschichte zu erzählen.
Er beschreibt eine Szene, die ich mir nun auch bildlich genau vorstellen kann. Sein Vater Heinz, der damals wohl selbst noch ein Kind war und sein Bruder Wilhelm sitzen mit den Eltern Hermann und Käthe und einem weiteren Pärchen rund um den Küchentisch. Bei diesem Paar, das zu Besuch ist, handelt es sich um die Schwester von Käthe und deren Ehemann, genannt Tante Elsa und Onkel Peter.
„Also saßen da deine Großeltern väterlicherseits, dein Großonkel und deine Großtante.“
Mein Peter nickt und ergänzt mich in meinen Überlegungen:
„Leider ist keiner von diesen Menschen mehr am Leben. Wenn du jetzt diese Geschichte aufschreibst, dann gerät sie wenigstens nicht in Vergessenheit.“
„Darf ich mal raten?“, frage ich, allerdings warte ich nicht auf eine Antwort, sondern rede gleich weiter. „Wahrscheinlich wollten sie gerade frühstücken.“
„Das nehme ich an“, bestätigt mich mein Mann.
Ich sehe alles genau vor mir: Der Tisch ist gedeckt. Natürlich hat die Mutter meines Schwiegervaters extra die Damasttischdecke aufgelegt, die sie noch von ihrer Aussteuer hat. Wahrscheinlich hat sie auch das gute Geschirr benutzt, denn immerhin ist Besuch da. Bestimmt hat die Mutter von Peters Vater selbst gemachte Erdbeermarmelade und frischgebackenes Brot auf dem Tisch stehen. Weiße und frisch gestärkte Servietten liegen auf den Frühstückstellern und die gesamte Küche duftet nach frischem Kaffee. Vor dem kleinen Heinz und vor dem etwas älteren Bruder steht jeweils ein Glas mit frischer Milch. Die Mutter hat bei einem bekannten Bauern am Tag zuvor neben der Milch auch noch etwas Wurst besorgt und auch der Käse fehlt nicht. Während sich die beiden Jungs den Kakao in die Milch rühren, kocht die Mutter schnell noch ein paar Frühstückseier. Selbstverständlich hat sie diese nicht genau abgezählt, sondern lieber noch ein paar mehr gekocht. Immerhin soll es dem Besuch ja gut gehen und man will nicht knausrig erscheinen.
Die Frühlingssonne lacht zum Fenster herein und kitzelt den kleinen Heinz an der Nase. „Beeil dich und komm raus zum Fahrradfahren!“, flüstert sie ihm scheinbar zu und so isst er auch artig sein Marmeladenbrot und sein Frühstücksei. Während die Erwachsenen sich unterhalten, müssen er und sein Bruder still sein und nicht dazwischen reden. Einmal stützt er sich während des Essens gedankenverloren auf seinem Ellbogen auf, doch da hört er auch schon Mutters ermahnende Stimme:
„Heinz, setz dich gerade hin!“
Gerne würde er aufstehen, doch er weiß genau, dass er dies noch nicht darf beziehungsweise erst um Erlaubnis fragen muss.
„Dürfen wir…?“, setzt er einmal zu der Frage an, doch Vaters strenger Blick verrät ihm, dass sie beide noch abwarten müssen. „Die Erwachsenen finden aber auch kein Ende“, denkt er. Andauernd reden sie von irgendwelchen langweiligen Dingen und immerzu greift sich noch ein Erwachsener eine Brotscheibe, ein bisschen Wurst oder Käse. Die gekochten Eier tragen auch nicht gerade zu einem schnellen Ende des Frühstücks bei.
Auf einmal erregt allerdings etwas die Aufmerksamkeit des kleinen Heinz. Obwohl er den Gesprächen der Erwachsenen nicht zugehört hat, bemerkt er, dass Unruhe am Tisch entstanden ist. Worum geht es hier eigentlich?

„Ach“, sagt seine Mutter gerade. „Ein einziges Ei ist noch übrig. Peter, das kannst du dir noch nehmen“, erklärt sie und richtet sich an ihren Schwager.

„Nein, nein!“, protestiert dieser. „Das gebührt dem Gastgeber.“
Und denkt sich dabei: „Ich würde es ja gerne noch essen, aber das gehört sich nicht. Es sieht sonst so aus, als hätten wir nichts zu essen zu Hause.“

„Ich bin vollkommen satt!“, sagt der Vater. „Bei uns ist der Gast König!“
Und er denkt sich: „Lecker dieses Ei. Wäre ja nicht schlecht, aber das kann ich nicht machen, sieht sonst so aus, als wolle ich es unserem Besuch vorenthalten.“

„Dann iss es du, Elsa!“, sagt die Mutter.

„Ich habe keinen Hunger mehr. Nein, Kätha! Nimm es dir doch! Du bist die Hausfrau und hast uns so gut bewirtet.“
Und sie denkt sich: „So ein Ei zum Abschluss wäre schon gut. Aber lieber nicht, sonst denkt jeder, ich könne nicht genug haben!“
Die Mutter aber sagt jetzt: „Ach, ich kann doch morgen wieder eins essen! Jetzt möchte ich keins mehr.“
Und sie denkt sich: „Warum eigentlich nicht? Wenn ich es schon gekocht habe, dann kann ich es eigentlich auch essen. Aber das tut man nicht, man isst dem Besuch nichts vor der Nase weg!“

Der kleine Heinz und sein Bruder würden gerne das Ei essen, aber niemand fragt sie und so sitzen sie still und lauschen dem Hin und Her im Streit um das letzte Ei auf dem Frühstückstisch. Die Erwachsenen können sich einfach nicht entscheiden.

„Na los!“, sagt der Vater. „Jetzt nimm sich doch endlich jemand dieses Ei!“
Eigentlich zuckt es jedem in den Fingern, aber keiner wagt es einfach zuzugreifen.

Die Namen werden hin und her geworfen und jeder meint, der andere solle sich des Eies erbarmen. Die Unruhe steigt in der vor ein paar Minuten noch so friedlichen Frühstücksrunde. Aber mit der Unruhe steigt auch der Unmut des Vaters. Diese Streiterei um ein kleines Ei geht ihm sichtlich auf die Nerven. Der kleine Heinz kann dies genau an der strengen Falte erkennen, die sich auf der Stirn des Vaters zu vertiefen beginnt.
Und dann greift der Vater urplötzlich nach dem Ei, das einsam und verlassen in dem Körbchen auf der Mitte des Tisches liegt. Fest und energisch umschließt seine Hand dieses kleine Ei. Er steht abrupt auf und marschiert mit festen und donnernden Schritten zum Fenster, öffnet dieses, holt aus und wirft das Ei hinaus.
„So, soll sich das Ei doch holen, wer will!“, sagt er bestimmt.

Alle sind wie erstarrt und beobachten von ihren Plätzen aus den Flug des Eies und dessen Landung im Blumenbeet im Garten des Nachbarn.
Die Mutter ist die Erste, die aus ihrem schockähnlichen Zustand erwacht und ihren Gatten mit den strengen und zurechtweisenden Worten ermahnt:

„Aber Herrmann, wie kannst du nur! Und dann auch noch vor den Kindern!“

Der kleine Heinz hat dieses einprägsame Erlebnis nie vergessen.

„Ja und irgendwann einmal hat er mir davon erzählt und tüchtig gelacht“, berichtet mir nun abschließend mein Peter.

Ich wünsche allen meinen Lesern ein schönes Osterfest mit vielen bunten Eiern und keinen Streit um das letzte Ei!!!

 

1200px-Osterhase*

*vom DHL Paket abfotografiert

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8 Kommentare

  1. Hallo Astrid,

    ich habe mich beim Lesen deiner Geschichte köstlich amüsiert und ich glaube, sie könnte heute noch genauso passieren. 😉

    LG Frauke

    • Astrid Berg sagt

      Oh ja, das glaube ich auch. Die Höflichkeit gebietet es, jeweils dem anderen den Vorzug zu geben, obwohl man es selbst doch gerne nehmen würde. 😀
      LG
      Astrid

  2. Liebe Astrid,
    ich konnte mir angesichts deiner bildhaften Schilderungen alles sehr genau vorstellen. Irgendwie fand ich es übrigens schon immer komisch, dass die Menschen aus lauter Rücksichtnahme „Nein, nimm’s du“ sagen, obwohl sie „Ja, her damit“ meinen. Ich bin daher anders. Wenn mir jemand etwas anbietet und ich mag es noch, dann nehme ich es :-DD Das mag vielleicht in manchen Kreisen als unhöflich gelten, aber es ist wenigstens ehrlich. Wenn ich „nein“ sage, dann wirklich nur, weil ich „nein“ meine. Gute Manieren dieser Art können nämlich, wie man ja auch an dieser Geschichte erkennt, ganz schön nerven. (Genau so wie dieses „Nach Ihnen – nein, nach Ihnen“ bei einer Tür, und dann quetschen sich beide gemeinsam durch 😉 ) Und dann fangen Eier zu fliegen an – sogar in Zeiten, in denen mit Lebensmitteln garantiert nicht geprasst wurde…
    Hoffentlich war euer Osterwetter besser als unseres! Wir hatten hier durchgehend Kälte…
    Aber irgendwann wird’s schon wärmer werden… und dann auch bald wieder ZU warm 😉
    Herzliche rostrosige Frühlingsgrüße 🌷☘️🌷,
    Traude
    https://rostrose.blogspot.com/2023/04/costa-rica-10-kapitel-samara-delfine.html

    • Astrid Berg sagt

      Bei deinem Beispiel mit der Tür musste ich schmunzeln. Solche Begebenheiten verschönern doch irgendwie auch den Tag, denn unwillkürlich müssen beide Parteien bei dem wiederholten Hin und Her lächeln. Das ist dann doch wieder schön 😀.
      Wir waren Ostern bei den Müttern in Hessen. Das Wetter war nicht wirklich schön, aber auch nicht schlecht. Am Dienstag regnete es dann allerdings fast den ganzen Tag.
      Liebe Grüße
      Astrid ist

  3. hihi.. ja.. eine lustige Geschichte
    so war das wohl früher ..
    eine etwas ähnlich kenne ich von meinem Vater..
    seine Eltern stritten sich
    der Vater hatte wohl „Schmuhgeld“ gemacht und die Mutter hat es entdeckt..
    sie solle es nur nehmen meinte er
    erbost hielt die Mutter meinem Vater das Geld hin und sagte..
    werf es in den Ofen
    und er befolgte es so schnell dass sie ihn nicht bremsen konnten ..
    das Geld war weg
    und sie haben sich wohl nie wieder drum gestritten
    kiebe Grüße
    Rosi

    • Astrid Berg sagt

      Na, das ist ja auch eine Begebenheit, die man in der Familie weitergeben sollte, damit sie in Erinnerung bleibt.
      Ich wünsche dir ein frohes Osterfest und streitet nicht um das letzte Ei, sonst landet es am Ende vielleicht auch in Nachbars Garten. 😉
      LG
      Astrid

  4. Karl-Heinz sagt

    Danke Dir, für die schöne Geschichte vom fliegenden Ei.
    Wünsche Dir schon mal ein frohes Osterfest aus dem sonnigen und warmen Nordwest Arkansas.

    • Astrid Berg sagt

      Ich wünsche Dir auch ein schönes Osterfest. Wir haben leider bisher kein besonders gutes Wetter, mal sehen, wie es an Ostern wird. Wir haben vorsichtshalber die letzten beiden Wochen im Urlaub schon mal ein bisschen Sonne „getankt“ 😀.
      Liebe Ostergrüße
      Astrid

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